Heilungschancen für Autoabhängige

Immer mehr örtliche Verkehrsinitiativen engagieren sich gegen den Autowahn/ Unterschiedliche Konzepte von Städten und Gemeinden/ „Opas Bordsteinradwege sind out“/ Car-sharing auf Erfolgskurs  ■ Von Heide Platen

Das verkehrsberuhigte Bornheim in Frankfurt am Main hat einen hohen Unterhaltungswert für Autohasser. Rotweiße Pfähle blockieren die Einfahrt in den Stadtteil. Davor stauen sich die Autofahrer, hupen, fluchen, versuchen in drangvoller Enge rückwärts zu entkommen und blockieren sich gegenseitig. Der Fahrer des roten Sportwagens muß sich den Zuruf gefallen lassen: „So en deures Audo, un kaa Geld fir e Brill'!“ An anderer Stelle biegen die Autofahrer vertrauensvoll von der Hauptstraße ab und werden um die Ecke und im Karree gleich wieder dort aus dem Wohngebiet hinauskatapultiert, wo sie gerade eben erst hereingekommen sind.

Die dicken roten Sandsteinpoller, die Straßenecken und Übergänge vor dem Zuparken schützen, sind Design-gekrönt und werden von Autofahrern ironisch nach dem Planungsdezernenten Martin Wentz benannt: die „Wentz- Plage“. Außerdem haben Straßenverengungen die Schleichwege der Blechlawinen in die Außenbezirke verstopft. Der anfängliche Protest von Anwohnern und Einzelhandel löste sich — größtenteils — mittlerweile in Wohlgefallen auf. Auch von etlichen Radfahrern wird die autogeplagte Metropole im Dauerstau inzwischen gelobt. Busfahrspuren, erst Gegenstand heißer Debatten und wilder Proteste, finden nach und nach Zustimmung. Die im Wahlkampf versprochene autofreie Innenstadt liegt zwar noch immer im rot-grünen Lande Utopia, aber, so meinen auch Kritiker, „es tut sich was“.

Die Bewegung im Stau ist – ebenso wie in anderen Städten – vor allem den zahlreichen neuen Initiativen zu verdanken, die den Straßenverkehr zu ihrem Problem gemacht und immer wieder ins öffentliche Bewußtsein gerufen haben. Sie streiten, oft schon seit Jahren und überregional kaum bemerkt, in ihrem Straßenzug für Fußgängerzonen und Radspuren, nutzen Autos gemeinsam oder blockieren Straßen gegen den allgemeinen Autowahn.

Im nordhessischen Kassel engagieren sich mittlerweile sechs Gruppen, die dem Magistrat vorrechnen, daß die Stadt eine Spitzenposition einnimmt: Sie bietet pro 1.000 Einwohner 50 Innenstadt-Parkplätze an. Nur Krefeld liegt mit 63 Stellplätzen noch weiter vorne. Der Zorn richtete sich auch gegen den Neubau einer aufwendigen Tiefgarage hinter dem Stadttheater mit 3.000 Stellplätzen, deren einer 60.000 Mark kostete. Das alles locke den Autoverkehr erst richtig in die Stadt. Für die FußgängerInnen dagegen bleiben, so die Intiativen, statt ebenerdiger Überwege, nur „die dunklen, stinkigen und unheimlichen Tunnel unter den großen Straßenkreuzungen“ übrig.

Der örtliche Verkehrs-Club Deutschland (VCD) und die Radlerinitiative widmen sich ihrem Sorgenkind Autofahrer auf ganz besondere Weise. Sie bieten eine „Suchtberatung Auto“ an und stützen sich dabei auf den philosophischen Eulenspiegel Peter Sloterdijk, der dem Mobilitätsdrang in der modernen Gesellschaft einen „massiv suchthaften Charakter“ bescheinigt und anmerkt: „Im Sinne der Technik als Herrschaft über Bewegungsabläufe ist Bremsen eine progressive Funktion.“ Er zitiert seinen antiken Kollegen Platon, bei dem Bewegung und Unsterblichkeit miteinander einhergehen und „Aufhören der Bewegung“ auch „Aufhören des Lebens“ ist. Ein Testbogen klärt die unverbesserlich Süchtigen über die vier Stufen ihrer Krankheit auf, die in der Endphase ruinöse Symptome einer menschengefährdenden Umweltsau zeigt – Diagnose: „Ihre Abhängigkeit vom Auto ist für uns erschreckend!“ Die KandidatInnen sind reif für die Behandlung mit der „Auto-Diät“. Die Broschüre „Fahr die Hälfte“ ist beim Bundesverband des VCD zu beziehen.

Härteren, wenn auch nicht so therapeutischen, Lesestoff liefert das Statistische Bundesamt, das im ersten Halbjahr 1992 insgesamt 919 Verkehrstote und über 50.000 Verletzte bei 206.758 Unfällen registrierte. Vincenz Grünow möchte die Kasseler „Suchtberatung“ deshalb, auch wenn sie noch wenig frequentiert werde, nicht nur als bissigen Scherz betrachtet sehen: „Wir wollen zum Nachdenken anregen“, auch darüber, daß „die Blechkiste eine gefährliche Waffe ist“. Er nutzt zum Disko-Besuch den „Nachtschwärmerbus“ und hat sein Privatauto abgeschafft. Dabei hat er die Schwierigkeiten des Entzugs und der schrittweisen Umgewöhnung an sich selbst erfahren; bei Wind und Wetter der Gang zur Bushaltestelle, Abhängigkeit von Abfahrtszeiten, überfüllte U-Bahnen zu Stoßzeiten.

Fritz Biel, Sprecher des Frankfurter Allgemeinen Deutschen Fahrrad-Clubs, ist auch ein Umsteiger. Bei ihm steht das Auto zwar noch vor der Tür, aber „ich benutze es immer weniger“. Häufiger tritt er in die Pedale. Er nimmt die Argumente der notorischen Autofahrer vorweg. Kaltes Wetter? Nein, sagt er, „es gibt nur falsche Kleidung.“ Und: „Die Leute frieren im Winter im Auto, ehe die Heizung richtig läuft, und vorher beim Scheibenabkratzen doch viel mehr.“ Berge? Auch Fehlanzeige bei den modernen Gangschaltungen der Zweiräder. Von radikalen Forderungen und Polemik hält Biel allerdings gar nichts. Grob angegriffene AutofahrerInnen, weiß er, fühlen sich in die Defensive gedrängt, reagieren auch auf rationale Argumente mit einer ausgesprochenen Verteidigungshaltung. Er lobt Frankfurt dafür, daß die Stadt einige der Anregungen der Fahrrad-Experten aufgenommen und umgesetzt hat und lehrt Unterscheidungen. Die Forderung nach „Opas Bordsteinradwegen“ hält er für überholt. Das Mittel der Wahl seien nach neuen Erkenntnissen auf der Fahrbahn markierte „Radspuren“. Vom Bürgersteig abgezwackte Streifen brächten nur noch mehr Enge und Gefahren für Fußgänger und Radler gleichermaßen. Außerdem erobere sich der Radfahrer so die Straße zurück und das Platzargument der Gegner entfalle ebenfalls.

Auch für den seltsam irrationalen Haß auf RadlerInnen, der sporadisch immer wieder bei konservativen Stadtplanern und PolitikerInnen auszumachen ist, hat er eine Erklärung: „Radfahren, das hat etwas strukturell Anarchisches.“ Radler seien im allgemeinen viel schwerer zu reglementieren und zu überwachen als Autofahrer. Die Vorstellung, daß sie – wie in Frankfurt – durch Fußgängerzonen kurven dürfen und Einbahnstraßen in der Gegenrichtung befahren, mache an autogerechte Ver- und Gebote gewöhnte Menschen einfach nervös. Außerdem gebe es bei der älteren Generation noch das „Arme-Leute-Syndrom“. Das Fahrrad sei seit der Jahrhundertwende „eben das Fortbewegungsmittel der armen Leute, der Frauen und Kinder gewesen“.

Auch der Gedanke, der Erwerb des Führerscheins werde als moderner Initiationsritus empfunden, leuchtet ihm ein. Die Menschen könnten nur langsam umgewöhnt werden, „Schritt für Schritt“. Der seit 1991 in der Main-Metropole amtierende Fahrradbeauftragte lud interessierte Verkehrsteilnehmer aller Sparten deshalb auch schon zu regelrechten „Friedensgesprächen“ ein. Daß das Fahrrad auch ein Statussymbol und Hobby sein kann, mache es erst nach und nach attraktiv. Da aber gebe es auch noch viel zu verbessern. Das fange schon bei der Anbringung von Fahrradständern an, besonders von diebstahlsicheren, zumal der Fahrradklau immer noch als „Kavaliersdelikt“ gelte. Nur zwei Beamte seien bei der Frankfurter Polizei darauf spezialisiert, die Kennzeichnung der Räder unzulänglich.

Die Initiativen, die dem Autoverkehr Einhalt gebieten möchten, sind vielfältig. Der Frankfurter Verkehrs-Club Deutschland (VCD) meldet in seinem Blättchen fairkehr den Erfolg der im April mit drei Autos begonnenen „Car- sharing Genossenschaft“, dem sich inzwischen schon über 60 NutzerInnen angeschlossen haben. Ortsgruppen in Mainz, Karlsruhe, Darmstadt, Mannheim, Wiesbaden, Marburg, Leipzig und Schwerin kamen dazu. Mittlerweile stehen sechs Autos bereit. Die Initiative meldete im September das Ergebnis der neuen Nachdenklichkeit. Die inzwischen sechs Autos stehen zu viel auf dem Parkplatz, werden zu wenig genutzt, um rentabel zu sein.

Für Umsteiger auf die Bahn bietet eine andere Initiative einen Lehrgang zum Lesen und Verstehen des Buches mit den sieben Siegeln an: „Fahrpläne lesen lernen“, lautet hier die Devise, die von der Straße auf die Gleise locken soll. Der vielfältige Protest findet sein Echo allmählich auch in Städten, Gemeinden in den Ministerien der Länder und sogar auf Bundesebene. Das Land Hessen ließ Gutachten zum Individualverkehr erstellen, Jobtickets und Aktionswochen sollen den öffentlichen Nahverkehr fördern, Autobahngebühren und Nahverkehrsabgaben die gesellschaftlichen Folgekosten von Verpestung und Raserei senken. Wiesbaden erhebt Gebühren für nur den Anwohnern vorbehaltene Parkplätze in innerstädtischen Wohngebieten. Darmstadt bietet, gegen einen Aufpreis auf die Semestergebühren, Freifahrten mit dem Studentenausweis. In Kaiserslautern legte der Allgemeine Studentenausschuß im Frühjahr ein „Drei-Säulen-Modell“ für alle Verkehrsteilnehmer vor: Semester-Ticket, Job-Ticket für Uni- Bedienstete und neue Bus- und Bahnlinien ins Umland.

Diese Trends werden allerdings von der Autoindustrie konterkariert, deren Anzeigen mit immer schnelleren, immer hochgerüsteteren 12-Zylinder-Blechburgen auf dem enger werdenden Markt omnipotente Kunden werben. Dazu noch einmal Sloterdijk: „Einmal richtig in Fahrt gekommen ist ein richtiger Fahrer Fötus und Rambo zur selben Zeit; er hat vom göttlichen Kind das unverantwortliche Schwebegefühl und vom King of the road das Bewußtsein, alles fest im Griff zu halten.“