Noch ist der Norden nicht verloren

■ Frank Teichmüller, Chef des IG-Metall-Bezirks Küste, warnt vor einer schweren Wirtschaftskrise im Norden / "Täglich neue Hiobsbotschaften" / Nur grundlegender Kurswechsel in der Wirtschafts- und...

, Chef des IG-Metall-Bezirks Küste, warnt vor einer schweren Wirtschaftskrise im Norden / »Täglich neue Hiobsbotschaften« /

Nur grundlegender Kurswechsel in der Wirtschafts- und Finanzpolitik kann den ganz großen Absturz verhindern / Zorn auf die Treuhandanstalt

Die Journalisten, die beim IG- Metall-Hintergrundgespräch Anfang dieser Woche in der Hamburger City-Bierschwemme „Alt-Berlin“ anwesend waren, fragten staunend noch einmal nach: „Schwere Rezession, meinen Sie das wirklich?“ Frank Teichmüller, des IGM-Bezirks Küste, ist zwar ein Mann markiger Worte, leichtfertige Horror-Parolen sind allerdings nicht sein Markenzeichen. „Ich habe das bisher noch nicht erlebt. Täglich neue Hiobsbotschaften aus allen Bereichen und Branchen. Egal, ob Maschinenbau, Elektronik, Luftfahrt, Automobilbau, Groß-, Klein- oder Mittelbetrieb. Wir haben eine sehr sehr schwere Rezession in Norddeutschland“, verkündet er.

„Es trifft zuerst die Ränder“, hat

1Teichmüller erkannt, „dazu haben wir noch unsere Strukturprobleme.“ Nach dem sterbenskranken Osten hat es nun also auch die Vorzeigebetriebe in der Westhälfte des Nordens erwischt: Philips und Klöckner kriseln, die Automobilindustrie, VW in Niedersachsen und Daimler in Bremen, hat, so Teichmüller, „acht Jahre lang geschlafen“. Jetzt werde es zu „viel größeren Schnitten kommen, als bisher zu lesen ist“.

Teichmüller gehört zu den Gewerkschaftsfunktionären, die die Notwendigkeit regionaler Strukturpolitik angesichts des harten norddeutschen Strukturwandels in den 70er und 80er Jahren früh begriffen haben. Sein Steckenpferd sind industriepolitische Konzepte wie die „maritime Verbundwirtschaft“, die

1Verknüpfung von Industrie und Umweltschutz sowie die Rüstungskonversion. Innerhalb der IGM hat er die vielen betrieblichen Arbeitskreise „Alternative Produktion“ hoffähig gemacht. Als Aufsichtsratsmitglied vieler Großbetriebe, der Howaldtswerft beispielsweise, verfügt er über intime Kenntnisse industrieller Strategien.

Teichmüller, einmal in Fahrt gekommen, hat zahlreiche Beispiele parat, die die strukturpolitischen Versäumnisse belegen, eloquent zählt er sie auf und ruft immer wieder aus: „Wir haben doch schon damals darauf hingewiesen und gefordert, daß ...!“

Zur Verzweiflung bringt ihn die Entwicklung in Mecklenburg-Vorpommern. Die Treuhandanstalt bezeichnet er als „Ausgeburt eines kranken Hirns“, eine Fehlkonstruktion, die Eigentümerin ist, aber es nicht sein möchte; die Unternehmerin sein möchte, aber sich wie eine Behörde verhält. Kaum zarter geht er mit der Landesregierung Mecklenburg-Vorpommerns ins Gericht: Die weigere sich ebenso strikt, mit der Gewerkschaft einen ernsthaften Dialog zu führen, wie sie sich ziere, die Sanierung von Betrieben auch mal gegen die Treuhand ernsthaft anzupacken.

Gänzlich auf die Palme bringt ihn schließlich der Vorschlag, jetzt müßten Lohnverzichte geübt werden, um den Osten zu retten. Schon heute, so rechnet Teichmüller vor, liegen die effektiven Löhne in Hamburg 30 Prozent höher als in Schleswig-Holstein. In Schleswig- Holstein wiederum liegen sie 30 bis 50 Prozent höher als in Mecklenburg-Vorpommern. Teichmüller: „Glaubt man ernsthaft, ein Land

1könne ein noch größeres Lohngefälle aushalten?! Uns ist kein einziger Betrieb in Mecklenburg-Vorpommern bekannt, der Lohnsenkung zur Lösung seiner Probleme fordert.“ Im Gegenteil: Viele Betriebe zahlten Zuschläge, damit ihnen die Facharbeiter nicht davonliefen. „Unsere Tarifpolitik im Osten ist das einzige, an das sich junge und qualifizierte Nachwuchskräfte noch halten können. Soll das jetzt auch noch zerschlagen werden?“ fragt er anklagend.

Was tun? Ist der Norden schon verloren? Da ist das optimistische Naturell Teichmüllers vor: Hat

1nicht die IG-Metall durch ihren unermüdlichen Einsatz dafür gesorgt, daß es eine Schiffbauindustrie an der Ostseeküste gibt? Hat sie nicht mitgeholfen, die Beschäftigungsgesellschaften zum Laufen zu bringen, die vielerorts fantastische Arbeit machen? Hat sie nicht industrie- und arbeitsmarktpolitische Instrumente hoffähig gemacht, die bislang für die deutsche Wirtschaftspolitik absolut tabu waren — wie eben die Beschäftigungsgesellschaften? Hat nicht selbst ein Helmut Kohl inzwischen erkannt, daß man neue Wege gehen muß?

Da gute Worte, die rechten Ar-

1gumente und Kohls Ohr allein nicht reichen, organisiert die IGM im Osten jetzt den „Aufstand der Zwerge“. Klein- und Mittelbetriebe, von Öffentlichkeit und Wirtschaftspolitik meist übergangen, sollen sich vernetzen, Lösungen für ihre Probleme und regionale Konzepte einklagen. Wenn aber nicht weltweit, europaweit und in Deutschland ein grundlegender Kurswechsel in der Wirtschafts- und Finanzpolitik stattfinde, der den Absturz in die Rezession verhindere, „dann bin auch ich ratlos“, warnt Teichmüller. Florian Marten