Schnitt durch die Zwiebel

■ „Bahnhof Friedrichstraße“ – Nachgelassene Erzählungen von Ingeborg Drewitz erinnern an ein vergangenes Berlin

Große Literatur hat uns Ingeborg Drewitz, die 1986 in Berlin starb, nie beschert. Bekannt und geschätzt wurde sie vor allem für ihr politisches und soziales Engagement. Viel gute Absicht, viel Mitmenschlichkeit und die humanistische Grundhaltung machen ihr Werk sympathisch. Dennoch ermüden und enttäuschen die Bücher leicht, verlassen sie doch selten die Ebene bloßer Benennung: sozialpädagogischer Realismus.

Wer derart eingestimmt die Sammlung von Erzählungen aus Ingeborg Drewitz' Nachlaß zur Hand nimmt, die jetzt unter dem Titel „Bahnhof Friedrichstraße“ erschienen ist, kann freilich durchaus Lesenswertes entdecken. Handlungsort dieser Geschichten: das noch nicht und dann doch geteilte Nachkriegs-Berlin. Beim Lesen wird plötzlich deutlich, wie sehr in den wenigen Jahren seit der Grenzöffnung die Erinnerung an das Leben mit der Teilung schon verblaßt ist. Fast schon wie aus einem anderen Leben tauchen sie als Illustrationen zur Titelgeschichte auf: Bilder von grauen, unübersichtlichen Treppengängen im Bahnhof Friedrichstraße, neonbeleuchtete Menschenschlangen, dann der Schiffbauerdamm. Auf diesem S-Bahnhof fahren die Züge bei Drewitz nur von West nach West und von Ost nach Ost. Der ursprüngliche Stadtplan Berlins, „eine aufgeschnittene Zwiebel“ mit ringförmigen Verkehrsadern rund um das alte Zentrum, ist hier besonders deutlich zerrissen. Einen „Bahnhof im Fadenkreuz“ nennt ihn Ingeborg Drewitz, denn im rechten Winkel zur gekappten Ost-West-Verbindung fahren unter der Erde die U-Bahnen vom westlichen Norden in den westlichen Süden. In der Mitte: Gespensterbahnhöfe und der bewachte Bahnhof Friedrichstraße, nur einseitig benutzbar. „Was ist das für eine Stadt mit dem trennenden Bahnhof?“ fragt Drewitz angesichts der absurden Topographie.

Hier ermöglicht die Lektüre eine zweite Entdeckung, die Feststellung nämlich, wie vertraut uns diese Absurdität war. Wer Berlin nur als geteilte Stadt kannte, dem wurde das Groteske zum Normalen. Mehr noch: Die von Ingeborg Drewitz so vielfältig beklagte Abtrennung beinhaltete für die nachgeborenen WestlerInnen sehr viel Reizvolles. Nicht nur, daß die Wessis ausgemauert waren, gefiel, sondern auch das meist problemlose Einschweben in die fremde Ost- Welt. Zum Preis eines S-Bahn-Tickets bot der Bahnhof Friedrichstraße der Nachkriegsgeneration den Eintritt in ein exotisches Land. Ingeborg Drewitz' Texte helfen zu begreifen, warum zum Thema „deutsche Einheit“ eine Verständigung zwischen Älteren und Jüngeren so schwer war. Jenseits aller Kalte-Kriegs-Mentalität betrauern ihre ProtagonistInnen die Teilung, denn sie haben etwas verloren: das Zentrum Unter den Linden, den selbstverständlichen Ost-West- Verkehr durchs Brandenburger Tor, durchgehende Züge von Potsdam nach Erkner. All das, woran wir uns nun mühsam und widerwillig wieder gewöhnen, repräsentierte für viele Berliner jahrzehntelang eine abgeschnittene, schmerzlich vermißte Realität.

Viele Erzählungen schildern die Verheerungen, die die gemauerte Teilung Berlins im Leben der Menschen anrichtete. „Die Frau mit dem schwarzen Kopftuch“ pilgert täglich zum Schiffbauerdamm und in die Ruinenbezirke hinter den S-Bahn-Brücken. Irgendwo dort, das hat sie herausgefunden, wurde ihr Sohn verhaftet, seither ist er verschwunden. Ihr Sohn: ein früherer Oppositioneller, einer, der dablieb, ein Fluchthelfer. „Der Nebenmann“ muß ungefähr im selben Alter sein, er aber geht Patrouille im Grenzstreifen. Er ahnt, daß der Soldat neben ihm in dieser Nacht versuchen wird zu fliehen, daß er selbst sich dieser Flucht anschließen könnte. Er bleibt, schießt nicht, wird von seinen Offizieren davongeschleppt. Eine Mutter bringt sich um, weil ihr Sohn bei der Stasi Karriere macht. Ein Rentner kehrt nach wenigen Tagen von seinem ersten West-Besuch zurück, weil ihm sein Sohn im Konsumland fremdgeworden ist.

Kleine Geschichten, kleine Leute, vergangene Berliner Realität. Da beschleicht einen beim Lesen doch mitunter das Gefühl, sich mit Antiquiertem abzugeben. Und dann wieder zeigt sich, daß diese Erzählungen bei dem schwierigen Unterfangen helfen können, die Berliner Geschichte auch emotional zu verstehen. Sabine Berloge

Ingeborg Drewitz: „Bahnhof Friedrichstraße“. Erzählungen. Hrsg.: Agnes Hüfner Claassen. Hildesheim, 1992, 29,80 DM.