Verspätet in der verspäteten Ukraine

In Uschgorod, dem Zentrum Transkarpatiens, wächst die Angst der ungarischen Minderheit/ Österreichisches Barock bildet das Reservat des Homo sovieticus  ■ Aus Uschgorod Klaus-Helge Donath

Stöhnend schwankt die Maschine. Es knackt und schabt im Metallkörper. Wieder setzt die kleine Jak 42 zum Steigen an. Heulend, als sollte es ihr letztes Mal sein. Schweißtropfen auf der Stirn meines Sitznachbarn. Auffällig tief drücken sich die anderen Passagiere in die Sessel. Die Flugzeit ist um eine Dreiviertelstunde überzogen. Draußen herrscht dichter Nebel. Dann, endlich, eine Landebahn: „Verehrte Passagiere, in einigen Minuten werden wir den Flughafen Lwow ...“ eine strenge Stimme meldet sich über die Bordanlage. Protest sinnlos, signalisiert sie. Natürlich war nicht das westukrainische Lwow das Reiseziel. Nach Uschgorod sollte es gehen, einige hundert Kilometer südlich, jenseits der Ostkarpaten. Doch Uschgorod gab keine Landeerlaubnis – Nebel.

Soeben mit dem Leben davongekommen, drückt die Reisenden schon eine banalere Sorge. Wie weiterkommen? Der Wagen schleppt sich über den Paß, der Galizien von Transkarpatien trennt. Das Gebirge ist eigentlich kein Hindernis. Wegen seiner Durchlässigkeit bot es den Bewohnern südlich der Karpaten selten Schutz vor einfallenden Eroberern. Eine Demarkationslinie war es dagegen immer – mental sozusagen.

Flüchtigen Schutz gibt der Nebel, wie an diesem Abend. Unerwartet taucht eine Straßensperre auf. Mitten im Land eine Grenzkontrolle. Der Oblast Transkarpatien gehört seit 1945 zur Ukraine, wie sein nördliches, weltläufigeres Pendant Galizien. Der Grenzer, ein Polizist, interessiert sich für alles. Was seine eigentliche Aufgabe ist, verrät er nicht. Der verwunschene Flecken Uschgorod ist die Verwaltungshauptstadt des Bezirks Transkarpatien. Heute eine Stadt mit knapp hunderttausend Einwohnern, kann sie auf über tausend Jahre Geschichte zurückblicken. Die Ungarn legten 872 den Grundstein des Burgschlosses über der Stadt. Sein Dachgestühl droht in die Tiefe zu stürzen, obwohl sich eine Saniererbrigade wohl schon seit Menschheitsgedenken in der Feste eingerichtet hat. Es beheimatet das historische Museum. Die Geschichte ist weggeschlossen, nur die ornithologische Abteilung und eine obskure Uhrensammlung halten sich an diesem Wochenende bereit.

Uschgorod träumt. Der träge Lauf des Usch, des Flusses, der der Stadt den Namen gab, scheint dagegen rasant. Einziger äußerlicher Wandel: die unvergleichlichen, nachsowjetischen Plakate amerikanischer Kinofilme. „Rambo“, „Rocky“ und die „Nächtliche Versuchung“, wie handgemalt zieren sie die gemauerte Uferböschung.

In Uschgorod hastet kaum einer. Vor allem nicht die Angestellten in Cafés und Restaurants, die der Plan einmal schuf. Hier hat man durstig zu sein, wenn Gastronomen eine Minute erübrigen können. Öffnungszeiten sind Richtwerte, um überhaupt jemanden anzutreffen. Mit einem Wort: sozialistisches Dienstleistungswesen. Uschgorod hat mit der ökonomischen Krise hart zu kämpfen, wie der gesamte transkarpatische Bezirk. Die Geschäfte gähnen meist vor Leere. Was feilgeboten wird, ist sündhaft überteuert oder westlicher Ramsch. Frau Krischnowa, die in den „Handel eingestiegen“ ist, schreibt das Übel der Grenznähe zu. „Aus Ungarn und der Slowakei kommen sie rüber und kaufen alles Brauchbare auf.“ Sie sagt das weder vorwurfsvoll noch abfällig, schließlich profitiert sie davon.

An diesem Abend will sie sich mit ihrer Freundin Natascha im Restaurant „Sakarpatija“ ein wenig vergnügen. Beide sind Mitte Vierzig. Ihre Männer waren Berufssoldaten der Roten Armee. Der eine kam ums Leben, der andere machte sich aus dem Staub. Die einsamen Herren gönnen Natascha und Lena kaum eine Tanzpause. Ständig scharwenzeln sie um den Tisch. Dann ist es soweit. Lena dankt höflich. Schon ist die Rauferei in Gang. Der Typ – nicht gerade nüchtern – haut ihr auf den Hinterkopf, die korpulente Dame packt ihn am Kragen und schleudert den Hänfling auf die Dielen. Geistesgegenwärtig assistiert Natascha mit einer Flasche Landeswein, Isabella blumig trocken. Doch ausnahmsweise sind die Kellner zur Stelle ...

„Tschechi“, meint Lena, noch am ganzen Körper bebend. Dann korrigiert sie sich „Slowaki“ – Slowaken. Auf einigen Baustellen in der Umgebung Uschgorods sind sie im Einsatz. Die Slowaken, meint Natascha, seien ungehobelt, Bauern eben. Natascha und Lena sind keine Russinnen, sondern Ruthenen, wie der slawische Stamm südlich des Karpatenkammes heißt. Jahrhunderte lebten sie mit Slowaken zusammen. Zunächst im Habsburgerreich unter der direkten Ägide Wiens. Nach dem Ausgleich Österreichs mit der ungarischen Stephanskrone in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts übernahmen hier die Ungarn das Sagen. In der Folge des Ersten Weltkrieges wurde das Gebiet dann der neuen Tschechoslowakei zugeschlagen. Prag hatte schon während der forcierten Magyarisierungspolitik Budapests um die Jahrhundertwende geholfen und dem isolierten Volk der Ruthenen materiell und kulturell unter die Arme gegriffen. Die jüngere Geschichte band die Ruthenen enger an die Slowaken denn an die Ukraine. Einige Jahrzehnte Sowjetunion haben zumindest das Selbstbewußtsein der Ruthenen gefördert. Immerhin.

Das ungarische Buchgeschäft in der Lew-Tolstoi-Straße trägt den Namen Petöfis, des Helden der Budapester Revolution von 1848. Ansonsten erinnert wenig an die ungarische Vergangenheit. Eher schon an die Gegenwart: Gäste aus dem nur zwanzig Kilometer nahen Mutterland, die kleine Geschäfte machen wollen. Vor dem barocken Puppentheater im Zentrum ein Veranstaltungskalender in ungarisch. Und Speisekarten im größten Restaurant, das seine Säle dennoch bevorzugt sale parisienne und russe nennt. Nur die Küche reicht nicht ran. Weder an das eine noch das andere!

Doch wichtigster Beleg der Vergangenheit ist die Architektur der Stadt, die ihr ein unverkennbar mitteleuropäisches Gepräge verliehen hat. Österreich-Ungarn verewigte sich in einem steinernen Eklektizismus. Vom Rokoko und Barock über den Klassizismus, die Neogotik bis hin zum Jugendstil. Nur selten hat sich im Stadtkern ein Betonklotz im realsozialistischen Stil dazwischengeklemmt. Sogar die Herrschaftsarchitektur der Nachkriegszeit versucht Maß zu zeigen. Uschgorod oder, wie die Ungarn sagen: „Ungvar“ hat den Charme einer Puppenstube. Lediglich die Profanarchitektur des „Gebetshauses für alle Religionen“ am Korso direkt gegenüber dem Offizierskasino, in dem noch k. u. k. Offiziere gehaust haben, entstammt einer irgendwie fremden unbekannten Zeit.

Die „ungarische Gesellschaft“ zieht gerade um. Aus der Innenstadt in ein geräumigeres Haus ans „Moskauer Ufer“ des Usch. Ihr Sekretär Laszlo führt einen serbischen Nachnamen: Brenzowitsch, schmunzelt er. Ein junger aufgeschlossener Historiker. 30.000 Mitglieder zählt die Gesellschaft. Von den 1,2 Millionen Einwohnern der Karpatho-Ukraine, schätzt Laszlo, müßten 160- bis 180.000 Ungarn sein. „Nationalitätenspezialist“ Josif Michailowitsch Solomon beim Gebietsrat bestätigte später die Angaben.

Zunächst arbeitete die Gesellschaft mit der ukrainischen Unabhängigkeitsbewegung „Ruch“ im westukrainischen Galizien eng zusammen. In Uschgorod zählt sie nur wenige Köpfe. Bis zur Unabhängigkeit. „Dann erschienen Artikel, die deutlich gegen uns gemünzt waren. Man warf uns Separatismus vor, behauptete, daß wir die Wiedervereinigung mit Ungarn anstreben.“

Laszlo lacht. „Was kann das kleine Ungarn schon ausrichten gegen 50 Millionen Ukrainer, außerdem haben sie dort Konflikte mit Rumänien, der Slowakei und Serbien.“ Illusionen hege man keine. Die wenigen Schulen, in denen Unterricht in Ungarisch läuft, machen noch keinen Frühling. Laszlo ist sich in seiner Bewertung unsicher. Vor drei, vier Jahren waren selbst solche bescheidenen Aktivitäten noch nicht denkbar, räumt er ohne Umschweife ein.

Doch die neugewonnene Freiheit hat andere Konfliktgräben aufgeworfen und Paradoxa offengelegt. Laszlo spricht hervorragend Russisch, wie die meisten Ungarn, die dafür kein Ukrainisch können. Denn sie leben in kompakten Gemeinden, in denen man die Muttersprache spricht. In der Schule und anschließend bei der Armee lernten sie Russisch. Um sich an einer ukrainischen Hochschule zu immatrikulieren, kann das jetzt schon zum Problem führen. Leise, ganz leise befürchtet Laszlo noch etwas anderes: vielleicht siedeln sie die Soldaten der Sowjetarmee, die aus dem Ostblock zurückkehren, gerade in den ungarischen Gemeinden an ...

Ein Stalin-Ukas in Marmor geschlagen grüßt die Besucher der Gebietsverwaltung gleich neben dem Büro des Chefs der Exekutive. Eine Odyssee durch die Korridore der Bürokratie beginnt. Keiner möchte Auskunft geben, kaum einer ist an seinem Platz. Selbst die sonst eher kommunikationsfreudigen Sekretärinnen scheinen sich verschworen zu haben. Ohne auch nur ein Wort mit den Provinzverwaltern gesprochen zu haben wird schlagartig klar: die Gebietsverwaltung ist die eigentliche Feste Uschgorods, die Zeit der osteuropäischen Umstürze hat Uschgorod vergessen. Die angegilbten Namensschilder an den Türen verraten es.

Dennoch findet sich schließlich einer, der reden muß. Josif Solomon aus dem Nationalitätenreferat. Sein Chef hatte ihn dazu verdonnert. Solomon ist unsicher, klammert sich an seine Papiere, aus denen er Zahlen repetiert: soundso viele Schulen, Universitäten und und und. Eigentlich gebe es keine Nationalitätenprobleme. Na ja, die üblichen kleinen Reibereien eben. „Alles, was ich Ihnen sage, ist meine persönliche Meinung“, wiederholt er mehrfach. Einer ungarischen Autonomie steht er mit gemischten Gefühlen gegenüber.

Solomon gehört zu jener Spezies, die tatsächlich einmal Sowjetbürger waren. Die neue Realität, fernab von Moskau, wo er die Höhere Parteischule besuchte, macht ihm zu schaffen. Nur noch „Ukrainer“ zu sein, die halbe Identität verloren zu haben, stimmt ihn traurig. Er bedauert antirussische Ressentiments, die „gelegentlich“ auch in Transkarpatien laut werden. Die Jugend allerdings fühle schon ukrainisch, wie der Durchschnittsbürger. Nur noch die Intelligenz diskutiert Sonderrolle und staatliche Autonomie der Ruthenen am Südhang der Karpaten.

Punkt halb zwölf öffnen sich die Türen. Graue und braune Anzüge treten auf den dunklen Korridor. Ein plötzlicher Lichteinfall muß sie vertrieben haben. Bald werden sie wieder an ihren Plätzen sein. Noch kann die Zukunft in Uschgorod nicht landen.