ÖTV auf Sparkurs für Tarifrunde '93

■ Monika Wulf-Mathies schwört die ÖTV auf eine Verzichtsrunde ein/ Streikkasse ist leer

Hamburg (taz) – „Wir sind überhaupt nicht dabei, irgendwen auf irgendwas einzuschwören. Wie immer beziehen wir auch jetzt die wirtschaftliche Lage in unsere Tarifüberlegungen ein – die Wirtschaft stagniert.“ Viel mehr als die Sicherung der Realeinkommen – also vier Prozent Inflationsausgleich – so Monika Wulf-Mathies gestern in einem Interview mit den Stuttgarter Nachrichten, wird bei der Tarifrunde 1993 wohl nicht zu holen sein. Nach Informationen der taz sind die moderaten Töne der ÖTV-Chefin aber nicht nur der stagnierenden Wirtschaft geschuldet. Der Streik in diesem Jahr brachte die Großgewerkschaft an den Rand des Ruins: Seit Jahren zehrt die ÖTV von der Substanz, liegen die Kostensteigerungen über den Zuwächsen der Mitgliedseinnahmen. Die Streikkasse wurde seit langem nicht in erforderlichem Ausmaß gefüllt. Ein Kassensturz sorgte jetzt für Ernüchterung unter den Funktionären der Organisation. Die ÖTV muß radikal sparen.

Derart geschwächt bereitet die Gewerkschaft die Tarifrunde 1993 vor. Vor dem Zusammentreffen der Großen Tarifkommission am 27.November in Stuttgart herrscht in den Führungsetagen Heulen und Zähneklappern. Selten kam es so dick wie diesmal: Die eigenen Kassen sind leer, die Stimmung unter den Mitgliedern im Keller, die öffentlichen Hände pleite wie nie, Preissteigerungen von vier Prozent und eine handfeste Rezession am Horizont. Die alten Strukturprobleme sind noch immer nicht gelöst: Die unteren Lohngruppen dümpeln am Rand zur Armutsgrenze, die Spitzenkräfte in der Verwaltung schielen auf die übertariflichen Paradiese in der Privatwirtschaft.

In dieser Not griff ÖTV-Vorständler Peter Blechschmidt zu einem toten Dichter und nutzte Bertolt Brecht als Mottogeber für die trockene Analyse der „Rahmenbedingungen für 1993“: „Nur belehrt von der Wirklichkeit können wir die Wirklichkeit ändern.“ Die Wirklichkeit, so Blechschmidt, gipfelt in folgender Zahl: „1992 wird die öffentliche Verschuldung 1.485.000.000.000 DM betragen.“ Deshalb kommt ÖTV-Chefin Wulf-Mathies zu der Einschätzung: „Die Sicherung des Realeinkommens wird im Vordergrund stehen.“ Damit ist freilich nicht der Erhalt der Staatsdienerkaufkraft nach Steuern gemeint, sondern ein bloßer Inflationsausgleich, auf deutsch ein Reallohnverlust. Mehr als 3,5 Prozent, so schätzt die ÖTV- Zentrale, sind diesmal nicht drin. Die offizielle Forderung wird voraussichtlich zwischen fünf und sieben Prozent liegen.

Für Experten der Rituale im öffentlichen Tarifdschungel zeichnet sich damit schon heute das Ergebnis der Tarifrunde 1993 ab: Ein Sockelbetrag von 150DM, eine dreiprozentige Lohnerhöhung für die Besserverdienenden, eine Erhöhung des Ortszuschlags für Verheiratete (soziale Komponente), die Streichung zweier Stufen der Eingangsbesoldung (um auf dem Arbeitsmarkt konkurrenzfähiger zu werden) und dies alles garniert mit einem bißchen Arbeitszeitverkürzung ab 1994/1995 – so könnte am Ende der öffentliche Tarifcocktail 1993 aussehen. Eine ganz brutale Sparrunde wird es trotz der diesjährigen ÖTV-Schwäche nicht geben. Schließlich sitzen am Verhandlungstisch auf der Arbeitgeberseite auch öffentlich Bedienstete der Ministerialbürokratie, die sich eine Nullrunde oder ähnlich grausame Dinge überhaupt nicht vorstellen können. Florian Marten Seite 4 und 10