"Ein Schreiben, das die Welt findet"

■ Der Frankfurter Autor Thomas Hettche war zu Gast im Literaturhaus / Ein Gespräch

INTERVIEW

»Ein Schreiben, das die Welt findet« Der Frankfurter Autor

Thomas Hettche war zu Gast im Literaturhaus/Ein Gespräch

Unumstritten und euphorisch ist vor drei Jahren das Romandebüt Ludwig muß sterben des Frankfurter Schriftstellers Thomas Hettche, Jahrgang 1964, begrüßt worden. Inkubation ist der Titel seines in diesem Herbst erschienenen Buches, eine Textsammlung, in der Hettche verschiedene Erzählungen zu einem äußerst dichten und souverän angeordneten Prosagebilde collagiert hat. Am Donnerstag stellte Thomas Hettche sein neues Buch im Literaturhaus vor. Jürgen Abel sprach mit dem Autor.

„Inkubation“ ist auch in einer typographisch aufwendigen Buchausgabe erschienen. Inwieweit korrespondiert darin die Gestaltung mit dem Inhalt der Texte?

In den Texten findet eine Suchbewegung statt, die ich typographisch auf einen Punkt bringen wollte. Möglich schien mir das, indem ich die Geschichten durch die Typographie miteinander reden lasse. Es ging mir nicht um ein optisch reizvoll gestaltetes Buch, ich wollte eine Struktur schaffen, die die Texte inhaltlich unterstützt. Das Buch besteht aus 20 Texten, die sich fünf Sprechern zuordnen und einem Haupttext, der kommentiert und paraphrasiert wird von den Sprechern. Um die verschiedenen Stimmen auseinanderzuhalten, gibt es mehrere Schriften.

Der Text verläuft über beide Seiten. Es gibt eine Zeitachse auf der Senkrechten, die deutlich macht, daß es nicht um einen Raum, sondern um Zeit geht, die sich entfaltet. Der Raum der Seite entspricht der Zeit des Schweigens, des Sprechens, von Gleichzeitigkeit, von Nacheinander, von Stille.

Die Suchbewegung verläuft von einem Ich zu einem Du. Was ist Inhalt dieser Suche?

Das sind Erkundungen in einem Gebiet vor dem Schreiben über die Möglichkeiten des Erzählens. Daß sich diese Suchbewegung auf ein Du konzentriert, ist mir erst bei der Bearbeitung der Texte klargeworden. Für jemanden, der plattes Erzählen erwartet, uninteressant, für mich eine Art Grundlegung, eine Basis auf der ich weiterschreiben kann. Die Schlußerzählung 'Korona' ist ein Text, der über das Tasten hinausgeht, in dem ich glaube, eine neue Sprache gefunden zu haben, die sich weiterträgt.

In welcher literarischen Tradition, welchem Kontext stehen diese Texte?

Auf der Seite eines experimentellen Schreibens sehe ich mich nicht, ich bin wirklich auf der Suche, und ich glaube auch auf der Fährte dessen, was man leider mit dem mißverstandenen Begriff des Realismus belegt. Ich denke, es geht immer

1um ein Schreiben, das die Welt findet, es geht nicht um ein Experiment im rein sprachlichen Raum. Sprache oder Poesie richtet sich immer auf die Welt, wobei einfach gleichgültig ist, ob Poesie erfunden oder wirklich ist. Da möchte ich hin, deswegen sehe ich mich nicht primär in Relation zu irgendeiner Avantgarde.

Gut gesagt, aber nichts zu sagen, lautet eine Kritik auch an „Inkubation“, die von Kritikern derzeit häufig mit der Forderung nach einer realen, einer echten Literatur verbunden wird. Wie lautet Ihre Antwort darauf?

Erstens, daß Realismus in der Sprache immer nur das Eingeständnis der Sprachlichkeit sein kann, allein dadurch eine poetische Welt entsteht. Zweitens, eine Sprache, die durch sich hindurch auf die Welt direkt zugreift und diese Welt einfach unmöglich zurichtet, finde ich langweilig. Und drittens, begreife ich nicht, wie jemand den Mehrwert, den poetische Sprache hat, unter die Formel 'Nichts zu sagen' addiert. Was Sprache kann, ist sie selber, ist die Welt, die sie selber hat und die Energie, die sie in ihren Sätzen entwickelt. Darin liegt das Spannende, die Wirkung

1zur Natur. Außerdem ist diese ganze Realismusdebatte eine litera- turbetriebliche, interne Debatte, in der es um Machtpositionen und das Besetzen von Öffentlichkeitspunkten geht. In den letzten drei Jahren sind die alten Allianzen aufgebrochen, es gibt nichts mehr, was klar ist, man weiß nicht mehr, wo sich die Guten, wo die Bösen befinden, und am Realismusbegriff wird die Neuverteilung der kulturellen Welt diskutiert.