Goldene Fäulnis zwischen Leergut

■ Premiere von Werner Schwabs eeuropäischem Abendmahl 'Übergewicht, unwichtig: Unform– im TiK

europäischem Abendmahl Übergewicht, unwichtig: Unform im TiK

Es schnackelt und kracht, rülpst und vögelt, aber vor allem schwabelt es. In einem Wirtshaus aus Bierkästen verbreitet sich Gossenphilosophie und biedere Scheinheiligkeit in jener speziellen Sprache aus falsch verstandener Gestochenheit und süddeutschen Spracheigenarten, die Werner Schwab extra für seine gescheiterten Existenzen entwickelt hat. Diese Sprachverwurstungen, die mehr Herr ihrer Sprecher sind als umgekehrt, tragen den maßgeblichen Anteil daran, daß Schwabs Unterklasse-Bestiarien kein trübsinniger Genre-Kitsch werden.

Auch wenn, wie in Übergewicht, unwichtig: Unform, im zweiten Akt zwei Yuppies von der versammelten Schar der Stammgäste verspachtelt werden, überbrücken diese Exzesse doch nur die weite Spanne von morbider Komik zum maskierten Realismus, der allen Schwab-Stücken zugrunde liegt. Die Figuren sind der Kneipen-, Mietshaus- und Bahnsteigwirklichkeit abgeschaut, und werden durch die schwabsche Sprachtherapie theatertauglich, ohne ihren Wiedererkennungswert zu verlieren.

Karli, der „Prolet“, den Regisseurin Brigitte Landes in einen Vorstadt-Rocker verwandelt, wird von Oscar Ortega Sanchez ein wenig

1„echter“ gespielt, wogegen Klaus Schreiber, der kindermordende Ehedepp, der seine Frau nicht befriedigen kann, eher eine Karikatur erreicht. Erstaunlich ist, daß beides perfekt ineinander spielt, daß Fratzenhaftigkeit und Sozialrealismus eine amüsante Einheit bilden, die dennoch den Weg vom Heuchel zum Massaker zurück zum Heuchel mit rhythmischer Präszision beschreitet.

1Neben den genannten brilliert vor allem Michael Schönborn als Thekensoziologe Jürgen Haubenschweiß, der sozusagen das beschädigte Gehirn des alkoholisierten Gesamtorganismus bildet. Ernsthaft in Frage gestellt wird die gewalttätige Solidargemeinschaft, in der jeder seine Rolle kennt und seine kleinen Träume pflegt, durch die Ankunft der beiden reichen Champagnernasen, deren bloße Existenz

1wie ein Quirl in das Selbstbewußtsein der Versammelten fährt. Das typische Schwabsche Doppelende, erst ein Inferno, danach eine Sozialstudie, findet auch hier, wie schon in der Volksvernichtung, statt.

Thalia-Dramaturgin Brigitte Landes, die nach dem plötzlichen Ausfall von Ralf Siebelt kurzfristig die Regie übernommen hatte, verarbeitet die „Radikalkomödie“ in eine ortsunabhängige Lehr-Farce über

1zerstörte Kommunikation, ohne das österreichische Bukett zu vernichten. Die Abgründe des Menschlichen, die Eruptionen des Tierischen, die Vermengungen von Sinn und Wahnsinn in der traumatischen Fäkalien- und Besessenheitssprache erlangen jene bestürzende Plastizität, die einen bei jedem Lacher dennoch nie an der Echtheit der Geschichten zweifeln läßt. Till Briegleb