Kirchdorf: auf Gift gebaut?

■ Neue Siedlung: Behörde will trotz Boden- und Luftverschmutzung bauen / Naturschützer warnen, die Umweltbehörde wiegelt ab

bauen / Naturschützer warnen, die Umweltbehörde wiegelt ab

Der Boden verseucht, die Luft vergiftet, unerträglicher Autolärm quält die Ohren. Unter diesen Bedingungen sollen die zukünftigen Bewohner der geplanten Wohn- Siedlung Kirchdorf Mitte-Nord ein gemütliches Zuhause finden. Für das direkt an die Giftmülldeponie Georgswerder und die Autobahn A1 angrenzende „Wohnidyll“ soll eines der wertvollsten Hamburger Biotope zerstört werden, in dem viele vom Aussterben bedrohte Tier- und Pflanzenarten eine Zufluchtsstätte gefunden haben.

Der Plan: Die Stadtentwicklungsbehörde (Steb) will 70 Hektar Pferdeweiden im Norden des Wilhelmsburger Retortenstadtteils Kirchdorf-Süd in eine Siedlung mit rund 950 Wohneinheiten verwandeln. 570 Sozialwohnungen und 380 Reihenhauseinheiten sollen hier entstehen. Neben einer Ladenpassage sind auch eine Schule, ein Kindertagesheim, ein Bürgerzentrum und eventuell ein Altenheim vorgesehen.

„Das Gebiet ist stark mit Schadstoffen belastet“, so schlägt jetzt der Bund für Umwelt und Naturschutz (BUND) Alarm, obwohl der Bebauungsplan noch nicht existiert. BUND-Sprecher Jens Ohde: „Zum gegenwärtigen Zeitpunkt lehnen wir eine Bebauung ab“. Der BUND fordert, daß alle relevanten Schadstoffbelastungen gemessen- und die ermittelten Werte sofort veröffentlicht werden. Jens Ohde: „Erst dann wissen wir, ob ein Leben hier für die menschliche Gesundheit zumutbar ist“.

Das darf bezweifelt werden: In einem von der Steb im Oktober verfassten Erläuterungspapier zu den Neubauplänen wird die Atemluft in dem zwischen Industrie- und Hafengebieten sowie der Autobahn A1 eingekeilten Gelände als „mäßig bis belastet“ eingestuft. Durch die Autobahn werden die Bewohner außerdem „der doppelten Lautstärke der Zumutbarkeitsschwelle für Wohngebiete“ ausgesetzt sein. Selbst nach der Errichtung einer Lärmschutzwand werden die Grenzwerte nachts weiträumig und im Ostteil der Siedlung auch tagsüber zum Teil deutlich überschritten.

Noch schlimmer: Die Planer erklären freimütig, daß das Erdreich, auf dem die Siedlung gebaut werden soll, „Belastungen mit Schwermetallen“ aufweist. So heißt es in dem internen Behördenpapier: „Die Werte sind zum Teil deutlich erhöht“, (...) der Nahrungsmittelanbau auf diesen Flächen wäre als bedenklich zu beurteilen“.

In den Sedimenten der Entwässerungsgräben werden „die Orientierungsdaten für tolerierbare Gesamtgehalte in Kulturböden an fast allen Meßpunkten für Arsen und Kupfer“, aber auch für Cadmium- und Zinkablagerungen deutlich „überschritten“. An einer Stelle wurde gar eine Überschreitung der Quecksilber-Orientierungswerte um 250 Prozent ermittelt.

Für die Umweltbehörde kein Grund zur Panik. „Die Orientierungswerte basieren auf der durchschnittlichen Hamburger Bodenbelastung, ihre Überschreitung ist weder ungewöhnlich, noch bedroht sie die Gesundheit der Siedlungsbewohner“, wiegelt Behördensprecher Kai Fabig ab. So läge beispielsweise die Arsenbelastung des Bodens in Hamburgs Osten im Schnitt dreieinhalb mal höher als die Orientierungswerte für Arsen.

Außerdem ist geplant, daß die stark belasteten Grabensedimente abgetragen- und das übrige Erdreich durch eine 80 Zentimeter dicke Sandschicht abgedeckt werden, bevor die Bauarbeiten beginnen. Auch Rene'e Culemann, Sprecherin der Steb, verteidigt das Neubaukonzept: „Die Belastungen sind nicht so gravierend, daß wir die Planungen stoppen müßten“.

Doch durch die Bebauung wird auch eines der wertvollsten Feuchtwiesenbiotope der Hansestadt zerstört. Allein 49 vom Aussterben bedrohte Pflanzenarten finden sich in dem Plangebiet, einige von ihnen gibt es sonst nirgendwo in der Bundesrepublik. Zwar will die Umweltbehörde die seltenen Tier- und Pflanzenbestände durch eine „Umsiedlung“ retten, doch BUND- Sprecher Ohde warnt: „Solche Maßnahmen gelingen fast nie, die bedrohten Arten nehmen die Neustandorte nicht an, sterben früher oder später aus“.

Besonders skandalös: Den Behördenplanern ist es „bislang nicht möglich“, die gesetzlich vorgeschriebenen Ausgleichsmaßnahmen für den von ihnen zugegebenen „massiven Eingriff in die vorhandenen wertvollen Biotope“ nachzuweisen. Ohde befürchtet: „Das wird vertagt auf den Sankt-Nimmerleinstag“. Marco Carini