Überall ist Wunderland

■ 50 mal "Alice" - Eine Bremerin sammelt traumhafte Bilder zu einer traumhaften Geschichte

Überall ist Wunderland

50 mal „Alice“ — Eine Bremerin sammelt traumhafte Bilder zu einer traumhaften Geschichte

So kann es anfangen, ganz harmlos: Das erste Buch wird noch verschenkt. Leichtfertiger Großmut! Das nächste ist eines mit üppigen, bunten Bildern, voller überraschender Details; jedes Blättern wird zur Entdeckungsreise: „Alice im Wunderland“, ein Kinderbuch, illustriert von Anthony Browne. Dazu gesellt sich ein zweites, ein drittes. Dann wird es Leidenschaft: En bloque bestellte Barbara L. (Name von der Redaktion geändert) in der Buchhandlung alle lieferbaren Alice-Bände, acht oder zehn Bücher — das wurde der Grundstock ihrer Sammlung.

Heute, drei Jahre später, stehen über fünfzig verschiedene Alice- Ausgaben in ihrem Wohnzimmerregal. Die meisten aus englischen Antiqariaten. Es sind blonde, puppenhafte Alices oder dunkelhaarige kleine Mädchen mit erwachsenen Gesichtern. Alice mit langen und mit kurzen Haaren, eine Sechziger-Jahre-Alice im kurzen Kleidchen mit frechem Pferdeschwanz und Stupsnase und eine sehr deutsche Alice mit langem blondem Zopf. Es gibt pfiffige englische Alices, monumentale amerikanische und verträumte tschechische. Auch eine spitznasige von der Mumin-Erfinderin Tove Jansson ist dabei, deren Wunderland mit drolligen, kauzigen Tierchen bevölkert ist.

Die Sammlerin: Es ging ihr, sagt sie, nie um die Geschichte, sie kauft die Bücher um der Illustrationen willen. „Da kommen meine Liebe zu Büchern und meine Liebe zu Bildern zusammen. Es gibt so wunderschöne Illustrationen in Büchern! Es hätte auch irgend eine andere Erzählung sein können. Aber ich bin Englischlehrerin, das paßt schon! Ich habe das Buch zum ersten mal als Kind gelesen und später nochmal im Studium, aber es enthält so viele Anspielungen, die ein deutsches Kind gar nicht versteht. Ich weiß es wahrscheinlich gar nicht genug zu würdigen, das Buch.“

Erst später lernte sie seine Vorgeschichte kennen: die des schüchternen, stotternden Mathematikdozent Charles Lutwidge Dodgson und seines alter ego Lewis Carroll, dessen Zeit stehen geblieben war wie die des Hutmachers, dem Alice begegnet. Der sich, ein Kind geblieben, mit kleinen Mädchen anfreundete und für sie die skurrilsten Geschichten und rätselhafte Gedichte erfand.

Das erste Mal begenete die Sammlerin seiner Alice mit sieben im Kino: Die Grinsekatze war ihr zwischen Walt Disneys grellbunten, süßlichen Figuren richtig unheimlich. Und auf einem der Bilder in ihren Büchern findet sie die Katze mit dem breiten Grinsen noch heute zum Fürchten. Die Ausgabe mit Illustrationen aus Walt Disneys Film fehlt nicht in ihrer Sammlung, daneben eine mit den Originalentwürfen von David Hall: Figuren mit Charakter und englischem Charme, die später im Zeichentrickfilm keine Verwendung fanden.

Und „noch was viel Schlimmeres“ zieht sie aus dem Bücherregal: „Ich mache ja vor nichts halt.“ Auch nicht vor dem Band, der mit Bildern aus der Fernsehfassung illustriert ist. „Von den gleichen Leuten, die Heidi gemacht haben.“ — Alice als Zwillingsschwester des Mädchens von der Alm: rotwangig, pummelig, entzaubert. Von Wunderland keine Spur.

Das zweite Mal wurde die Lehrerin durch einen Pop-Song auf Alice aufmerksam. Ende der sechziger Jahre war das;Jefferson Airplane sangen das Lied vom weißen Kaninchen: „Da tauchten lauter Bilder aus der Geschichte auf. Wie Alice größer und kleiner wird, durch den Pilz, von dem sie ißt. Das Lied handelte von Drogen, und manche von diesen Hallunzinogenen werden ja auch aus Pilzen gemacht.“

Aus der dritten Begegnung wurde die Sammelleidenschaft, obwohl sie die Alice bis heute nicht richtig leiden kann: „Sie ist mir zu altklug.“ Überhaupt trägt kaum eine der Figuren des Carollschen Wunderlandes richtig sympathische Züge. Es ist eine sehr aufdringliche Gesellschaft, in die das Mädchen da hineingerät. Die Lieblingsfigur der Sammlerin ist die schläfrige Haselmaus.

Ein englischer Buchhändler in einem Antiquariat sagte ihr, es sei ungefähr das teuerste Hoby, das sich eine Buchsammlerin aussuchen könnte: Alice im Wunderland. Doch da war es bereits zu spät. Dennoch hat sich die Sammlerin ein Limit gesetzt, wieviel sie höchstens für eine Ausgabe hinlegen will: „Erstausgaben kann ich mir nicht leisten. Die Originalausgabe der ersten Alice im Wunderland kostet inzwischen 2.500 Pfund, rund 7.000 Mark.“ Regelmäßig bekommt sie von englischen Antiquariaten Listen der Bücher zugeschickt, die neu hereingekommen sind. „Aber das ist so eine Sache. Bis die hier sind, sind die erschwinglichen und interessanteren Sachen meist schon weg, wenn ich anrufe.“

Ihr ältestes Buch ist ein englisches von 1909, die Illustrationen sind reinster Jugendstil. Ganz nebenbei laden die Bücherstapel ein zu einem Streifzug durch die Geschichte des Stils: Von den viktorianischen Originalzeichnungen, mit denen John Tenniel die Erstausgabe illustrierte, über die braven deutschen Schulfibelzeichnungen der vierziger Jahre, bis hin zu den gewagten, modernen Entwürfen der Achtziger. Auch Salvador Dali hat „Alice im Wunderland“ illustriert. Eine Ausgabe, die das Limit der Sammlerin zu ihrem Leidwesen um ein Vielfaches übersteigt.

Alice's Traum vom Fall ins Kaninchenloch und was sie dort unten erlebt, ist eine Erzählung, die ZeichnerInnen zu traumhaften, surrealen Bildern inspiriert. Und wenn die Sammlerin Zeit hat, sich ihre vielen Bücher anzuschauen, kann sie sich nicht mehr satt sehen: „Sehen Sie nur, diese Raupe oder dieser lange, endlose Gang ... Manchmal träumt man so, und im Traum ist das alles ganz logisch. Doch beim Aufwachen merkt man, es war nichts.“ Diemut Roether