„Ein sehr behutsamer Prozeß“

■ Gesichter der Großstadt: Sigrid Jacobeit leitet die KZ-Gedenkstätte Ravensbrück

Als sich Sigrid Jacobeit im Frühsommer beim Potsdamer Kultusministerium um den Posten als Leiterin der KZ-Gedenkstätte Ravensbrück bewarb, da war Rostock noch kein Synonym für den Ausbruch rassistischer Gewalt. Durch Deutschland rollte noch keine Welle der Übergriffe auf Asylbewerberheime, Berichte über Schändungen jüdischer Friedhöfe waren selten. „Die Entwicklung der vergangenen Monate hat mir angst gemacht vor meiner Aufgabe“, gesteht die 52jährige habilitierte Volkskundlerin heute offen ein. Und setzt gleich hinzu: „Aber ich stehe in der Verantwortung, mich diesen Dingen zu stellen.“ Am 1. Dezember beginnt sie ihre Arbeit in dem brandenburgischen Städtchen Fürstenberg 70 Kilometer nördlich von Berlin.

Seit zehn Jahren kennt Sigrid Jacobeit die Gedenkstätte und den Ort, der durch den Streit um den Bau eines Supermarktes auf dem Gelände des ehemaligen Frauen-KZ traurige Berühmtheit erlangte. Ende der 80er Jahre veröffentlichte die Volkskundlerin, damals Oberassistentin an der Humboldt-Universität, einen Band mit Biographien von Frauen, die das KZ Ravensbrück überlebt hatten. Bei einer Tagung hatte sie eine Überlebende kennengelernt, gemeinsam mit einer Lektorin den Plan für das Buch entworfen und im Laufe der Arbeit dann überrascht festgestellt, daß die in der DDR als „Vorzeigefrauen“ gehandelten KZ-Überlebenden nicht nur keine politischen Übermenschen waren, sondern auch oft nach 1945 mit der neuen Obrigkeit in Konflikt geraten waren.

Daß Sigrid Jacobeit für die KZ- Gedenkstätte zuständig sein wird, haben einige der von rassistischen Gewaltausbrüchen schockierten Überlebenden nicht begrüßt. „Die Frauen haben mir am Anfang abgeraten, dieses schwere Amt zu übernehmen“, erinnert sich Sigrid Jacobeit in ihrer mit Büchern vollgestopften Wohnung, die sie gemeinsam mit ihrem Mann Wolfgang bewohnt. Der emeritierte Professor der Volkskunde, der in den 50er Jahren aus der Bundesrepublik in die DDR gewechselt war, hatte an der Humboldt-Universität eine eigene „Schule“ aufgebaut und das wissenschaftliche Personal vieler Museen der DDR ausgebildet. Gemeinsam mit seiner Schülerin und späteren Frau, die zuvor neun Jahre lang ein volkskundliches Museum in Wandlitz geleitet hatte, schrieb er die zweibändige Illustrierte Alltagsgeschichte des deutschen Volkes. Das Manuskript des dritten Bandes, der die Zeit von 1900 bis 1945 behandelt, hat das Wissenschaftler-Ehepaar eben fertiggestellt.

Ihre Arbeit als stellvertretende Leiterin des Hamburger Museums für Arbeit gibt Sigrid Jacobeit nun ebenso auf wie ihre Wohnung in einem Vorort Berlins. Die neue Gedenkstättenleiterin zieht nach Fürstenberg. Sie will vor allem die in dem Ort lebenden Menschen in Schulen und Pfarrgemeinden für die Auseinandersetzung mit der Geschichte gewinnen und sie nicht als Ignoranten ausgrenzen, denen der Bau eines Supermarktes wichtiger war als die Erinnerung an die Verbrechen des Nationalsozialismus. Und dafür muß sie Präsenz zeigen. Ein fertiges Konzept, wie trotz der rechtslastigen Stimmung Jugendliche für eine offene Auseinandersetzung mit der Geschichte des KZ gewonnen werden können, hat sie allerdings nicht in der Tasche. „Da möchte ich ganz klein anfangen, das Gespräch suchen“, plant sie: „Das wird ein sehr behutsamer Prozeß.“

Daß auch in Fürstenberg Jugendbanden auf Motorrädern über das KZ-Gelände brausen und die Reichskriegsflagge schwenken, daß Exponate zerstört werden, hat sie an ihrem Vorhaben nicht irregemacht. Vielleicht hat der Mut der in Ravensbrück eingesperrten Widerständlerinnen gegen den Nationalsozialismus in den vielen Jahren der Beschäftigung mit der Lagergeschichte auf die Wissenschaftlerin ansteckend gewirkt. „In der jungen Generation“, so sagt die Volkskundlerin, „sehe ich potentielle Verbündete.“ Hans Monath