Mittel zum Zweck

„Sprung in die Zeit“ – Endlich: eine internationale Fotografie-Ausstellung in Berlin  ■ Von Ulf Erdmann Ziegler

Die Verve, mit der Fotograf(inn)en die Wirklichkeit am Davonlaufen hindern wollten, ist erlahmt; zeitgenössische Fotograf(inn)en blicken zurück und interpretieren die Riten und Gesetze der Fotografie. So beginnt sie gewissermaßen von vorn. Fotografie, gerade 150 Jahre alt, ist historisch geworden, es ist noch oder nun gerade möglich, ihre Geschichte zu schreiben und umzuschreiben.

Die Ausstellungsmacher hatten „längst begriffen, daß wir an einem Thema arbeiten, das in der Luft liegt“: Zeit. Das Modethema benutzten sie als Vehikel, um die der Berlinischen Galerie angebotenen Mittel der Berlin 2000 Olympia GmbH zu nutzen und – man darf es jetzt wohl sagen – auf genialische Weise zu zweckentfremden. Was Inka Graeve und Janos Frecot zusammengetragen haben, ist eine große Schau zur Geschichte der Fotografie unter dem Aspekt der Bewegung und des Stillstands. Was Fotografie angeht, hatte ich Berlin schon abgeschrieben: die Kunsthalle schläft, die Akademie schläft, die Nationalgalerie vertraut auf Geschmack und Zufall, der Berlinischen Galerie waren die Hände weitgehend gebunden: gesammelt werden darf nur, was im Zusammenhang mit Berlin steht; so kommen zwar gute „Stücke“ und interessante Werkkonvolute ins Haus, aber es reicht nicht für einen starken Impuls, der in die ganze Stadt hineinwirken würde. Vor wenigen Monaten konnte man in Hamburg, gleichzeitig, sehen: Mapplethorpe, die Blumes, Leibovitz. In Essen wurden – früh – die Arbeiten des Berliners Thomas Florschuetz gezeigt, in Berlin sieht man fast nichts von den Bechers oder ihren erfolgreichen Schülern.

„Sprung in die Zeit“ ist eine Ausstellung über elf Räume, im oberen Stockwerk des Martin- Gropius-Baus die gesamte Ostseite und die meisten Räume der Nordseite. Von dort aus begangen, „beginnt“ die Fotografie mit der „Erforschung der Bewegung“, also der wissenschaftlich inspirierten Ausnutzung des größten Defekts fotografischer Darstellung, der Isolation des Augenblicks. Es finden sich Beispiele der berühmten Bewegungsstudien, Bildsequenzen von Marey, Muybridge und Ottomar Anschütz und ein magisches Foto von Harold Edgerton, in den Dreißigern Professor für Elektrotechnik am Massachusetts Institute of Technology. Das Bild rafft – im Licht des Stroboskops – die Phase zusammen, in der ein Tennisball auf den Schläger trifft und sich in die Bespannung tief hineindrückt, was in der gräulichen Fotografie mit ihren Randunschärfen sehr mühevoll aussieht. Intuitiv möchte man ausrufen: Aber so ist es nicht in Wirklichkeit!

Im zweiten Raum, „Zeitfolgen“, wird deutlich, wie weit Graeve und Frecot das Thema abgesteckt haben. Neben Duane Michals perfekter Kurz-Geschichte „The Spirit Leaves the Body“ (von 1968) findet sich eine Auswahl aus den Jahresportraits der Schwestern Brown von Nicholas Nixon: in den Gesichtern der Frauen sieht man die Lebenszeit, einerseits, und ihre Relativität, andererseits – Altern, zeigen die Fotografien, ist nicht identisch mit dem Verlust von Glück. Andererseits wird durch das Kollektiv der vier Geschwister „das Herannahen“ des Todes geradezu sichtbar gemacht.

Während man zunächst denken konnte, die Ausstellung zeige ausschließlich Fotografien, die faßbare und sichtbare Unterkategorien der gewaltigen Vorstellung, die das Wort „Zeit“ meint, fotografisch darstellen, kommen im dritten Raum „Lichtzeit“ Zweifel auf. Die Kombination von „Licht“ und „Zeit“ ist es ja, was Fotografie eigentlich ausmacht, und so findet man unter dem tautologischen Zauberwort auch Arbeiten, die im Vergleich mit den Urstudien der Fotografie nicht standhalten. Zum Beispiel die Farbfotografie einer albernen Inszenierung: Ein zerstäubender Lichtstrahl fährt als „La Comète“ in einen nächtlichen Garten voller Menschenpuppen nieder: postmoderne Verlegenheiten (Bernard Faucon, 1982). In den „Lichtzeit“-Saal ist auch die Studie einer Mondfinsternis, 1910, geraten: der Mond als überstrahltes Silberding, ein purzelndes Hörnchen, festgehalten in einem extremen Querformat von kaum 3 Zentimetern Höhe in sechs Phasen. Offensichtlich hat die Studie zwischen Planung und Hängung den Platz gewechselt, das Kärtchen weist sie eigentlich der Rubrik „Erforschung der Bewegung“ zu.

Auch im großen, mittleren Saal, der eigentlich dem Thema „Zeit- Körper-Raum“ gewidmet ist, finden sich Bilder aus anderen Themenkreisen, vor allem größere Formate. Was einerseits das Betrachten anstrengender macht (denn man will ja gerade mit den Kuratoren in den Fotografien etwas ganz bestimmtes erkennen), und andererseits die Vagheit einer Sparte wie „Zeit-Körper-Raum“ sehr deutlich vor Augen führt. Hier steigen die Ausstellungsmacher auf die Sehnsucht von Fotografen, in traditionellen Genres (wie dem Akt) „Metaphysisches“ spürbar zu machen, allzu willig ein. Die Zeit ist in der Fotografie eben doch selten Gegenstand, sondern vor allem Teil der Technik, Mittel zum Zweck.

Das wird in den beiden Räumen am deutlichsten, die ihr Sachgebiet am schlichtesten begrenzen: der „Tanz-Zeit“ (längere Belichtungszeiten machen die Schönheit einer Bewegung sichtbar) und dem „Sprung in die Zeit“ – einem Raum mit Sportfotografien. Dort findet sich (und damit wäre der Bezug zu Olympia und Berlin dann doch noch hergestellt) ein Bild von Leni Riefenstahl aus dem Jahr 1936. Unter Wasser aufgenommen, zeigt das Bild einen Wirbel von Schaum, an dessen unterer Spitze eine Figur fragmentarisch sichtbar wird. Der Keil des Eintauchenden zeigt eine ungeheure Dynamik, hat etwas vom geschwungenen Profil des Delphins. Die Fotografie zeigt nicht das Subjekt in Bewegung, sondern sein komplexes Gegenbild, die Veränderung der Materie. Das Bild transportiert nicht Riefenstahls ekelhaft geglättetes heroisches Menschenbild.

Die ergiebigste Kategorie ist wohl die des vorletzten Raumes „Zeit-Allegorien“ – der zweite Raum, wenn man die Ausstellung andersherum begeht, was ebenfalls Sinn macht. Dort findet man eine überraschende Folge von Bildern, die deshalb im Rahmen einer Untersuchung „Fotografie“ und „Zeit“ so einleuchtend sind, weil der hier bemühte Begriff von „Zeit“ mit der Belichtungszeit nicht oder nur indirekt zu tun hat: Die offensichtlich im Schlaf versteinerten Lava-Leichen aus Pompeji (fotografiert von Giorgio Sommer, 1895) sind so etwas wie die Vorwegnahme eines „fotografischen Augenblicks“ in Echtzeit, einige Jahrtausende vor Erfindung der Fotografie; und Rudolf Schäfers wunderbares Portrait eines gestorbenen Kindes ist als „Zeit-Allegorie“ exakt und konstruktiv gedeutet.

Sprung in die Zeit. Bewegung und Zeit als Gestaltungsprinzipien in der Photographie von den Anfängen bis zur Gegenwart, Martin- Gropius-Bau, Di-So 10 bis 20 Uhr, 24., 25. Und 31.12. geschlossen. Bis zum 17.1.1993, Eintritt 8 (4) Mark. Katalog, 268 Seiten, Duplex, deutsch und englisch, 42 Mark.