Wahnsinn – als Rationalität getarnt

Serie: Der Verkehr und die Zerstörung der Stadt (Dritte Folge)/ Die Innenstadt, aus der man die Mieter vertreibt, wird beruhigt, und der Verkehr wird dorthin verlagert, wo die Menschen wohnen  ■ Von Hans-Joachim Rieseberg

Wie in vielen Bereichen hat auch die Verkehrsplanung als ausführende Verwaltung in Berlin die Verkehrsplanungszeit verschlafen. Im Grunde verkam nach dem Bau der Mauer die Stadtplanung auf beiden Seiten zu einer krähwinkelhaften Betulichkeit. Hinzu kam, daß immer noch die stadtplanerischen Hardliner in der Verwaltung, aber auch in vielen privaten Büros, das Sagen hatten, die zum Beispiel den absurden Plan entwickelt hatten, die S-Bahn aufzugeben und auf ihrer Trasse ein Stadtautobahnsystem zu entwickeln.

Niemand dachte ernsthaft über die Verbindung zwischen dem Umland und Westberlin nach, denn die Mauer schien auf 100 Jahre gebaut. So wurde denn im Laufe der Nachkriegsjahre ein beträchtlicher Teil des Haushalts, aber auch der Bundeszuschüsse in ein Straßensystem investiert, bei dem nichts zueinander paßt. Die Westberliner Stadtautobahn kann den Fernverkehr nicht aufnehmen, weil sie ein Zwitter ist. Sie ist keine Schnellstraße, und sie hat zu kurze Abstände bei den Ein- und Ausfahrten. Sie täuscht aber durch ihre Sechsspurigkeit vor, eine sehr große Kapazität zu haben.

Darüber hinaus hat die Mauer viel schärfere Restriktionen bei der Stadtplanung geschaffen, als viele wahrhaben wollen. Sie hat einen 20 Kilometer breiten beruhigten Straßenbereich geschaffen, den die Bewohner heute so nicht mehr ohne weiteres hergeben wollen. Die Leute, die in diesem breiten Gürtel wohnen, wollen zwar in der Regel auch Auto fahren, aber nicht vor ihrer eigenen Haustür, sondern nur vor der Haustür anderer.

So entwickelt sich das St.-Florians-Prinzip munter weiter. Denn auch die Bewohner der Randbezirke wollen zwar in das Umland fahren, wollen aber nicht, daß das Umland bei ihnen durchfährt, wenn es in das Zentrum will. Damit aber nicht genug.

Die Bundesregierung ist noch penetranter: Sie will das gesamte Gebiet um den Reichstag beruhigen, möchte aber, daß statt dessen der Automobilverkehr, auf den sie selbstverständlich nicht verzichten will, durch Kreuzberg, den Wedding, Reinickendorf, Tiergarten, Mitte und Tempelhof geleitet wird. Hinzu kommt, daß der äußere Stadtautobahnring mit seiner Länge von 200 Kilometern für die innerstädtische Verkehrsabwicklung nicht zu gebrauchen ist. Die Entfernungen sind zu weit, und in Berlin stehen immer noch scheinbar genügend Schleichwege zur Verfügung.

Den Planern läuft die Zeit weg

Der gesamten Straßenplanung läuft darüber hinaus die Zeit weg. Noch in den 50er Jahren hätte man wahrscheinlich ohne stärkeren Widerstand der Bevölkerung den inneren Stadtautobahnring um die Kernstadt schließen können. Er wäre dann heute als Faktum da und würde als Notstopfen für die nächsten 20 Jahre ausreichen. Die heutigen gesetzgeberischen Grundlagen ermöglichen es aber nicht, diesen Stadtautobahnring noch in solchen Zeiten zu schließen, wo es Sinn hätte, mit ihm provisorische Lösungen anzupeilen. Das wissen die meisten Stadtplaner bzw. Verkehrsplaner, und deswegen sinnieren sie über Übergangslösungen, die sie aber als Dauerlösungen verkaufen, weil sie genau wissen, daß sie den gesamten Einwohnern zur Zeit eigentlich überhaupt nichts zur Verfügung stellen können, weder Straßen noch Bahnen.

Darüber hinaus fehlt ihnen der Platz, beides bauen zu können, und es fehlt ihnen noch mehr das Geld, um Zukunftsideen realisieren zu können. All dies erklären sie aber niemandem, sondern sie tun so, als ob sie die Sache fest im Griff hätten.

Es werden auch keine klaren Alternativen benannt, sondern die Stadt verwickelt sich in eine wochen- und jahrelange Diskussion darüber, ob nun Automobile durch das Brandenburger Tor fahren oder nicht. Historisch gesehen wurde das Brandenburger Tor nicht für Automobile gebaut, sondern ist das Tor aus Berlin heraus oder nach Berlin hinein, nämlich in das alte Zentrum. Noch vor 15 Jahren hätte in jeder Metropole die Stunde eines großen Verkehrstunnels an dieser Stelle geschlagen. Einen solchen Vorschlag wagt selbst der konservativste Stadtplaner nicht mehr. Man ist geneigt, dies für einen Fortschritt zu halten. Aber wirklich nur dann, wenn hieraus ganz andere Konsequenzen gezogen werden, als es jetzt in Berlin geschieht.

Denn nun setzt angesichts harter Sachzwänge ein ungeheures straßenpolitisches Gewurstel ein. Es werden für den großen Tunnel unter dem Brandenburger Tor jede Menge Ersatztunnel gesucht und geplant: der Tunnel unter dem Tiergarten, der Tunnel unter dem Potsdamer Platz. Die Diskussion rankt um die Erweiterung der Oberbaumbrücke, und wahrscheinlich wird demnächst die große Diskussion entstehen, ob im Zuge der Olympiaplanung sich auch an der Dimitroffstraße und an der Bernauer Straße irgendetwas in irgendeiner Form verändern muß, um die große Umfahrung einer immer spärlicher bewohnten Innenstadt zu ermöglichen.

Das Brandenburger Tor für eine Übergangszeit abbauen

Nimmt man es nun einmal zynisch, so wäre es im Grunde vernünftiger, Automobile durch das Brandenburger Tor fahren zu lassen, denn an der Straße des 17. Juni, der Straße Unter den Linden und an der Karl-Liebknecht-Straße wohnen kaum Menschen. Die Alternative schon der kleinen Umfahrung bringt viel mehr Verkehr in die zentrumsnahen Wohngebiete, und die weitergehende Alternative des mittleren Stadtstraßenringes bringt vor allem Verkehr nach Kreuzberg, Wedding, Mitte und Tiergarten. Man würde dabei im Augenblick in Kauf nehmen, daß das Brandenburger Tor in etwa 20 Jahren einsturzgefährdet wäre.

Es wäre dann am sinnvollsten, für diese Übergangszeit das Brandenburger Tor abzubauen, denn der materielle Schaden, der dadurch entsteht, daß man Verkehr durch die Wohngebiete leitet, ist wesentlich größer als der materielle Schaden, der entsteht, wenn man den Verkehr durch das Brandenburger Tor leitet. Der Abbau und der Neuaufbau des Brandenburger Tores kostet eventuell 100 Millionen DM, die Durchleitung des Verkehrs durch die Wohngebiete in Kreuzberg, Mitte, Tiergarten und Wedding kostet ungleich mehr, auch an Kosten, die sich durch gesundheitliche Schäden und langfristige Frühverrentungen ergeben, die durch Verkehrslärm und -abgase entstehen.

All dies wird aber nicht rational und sachlich diskutiert, sondern es wird nur mit Mitteln der politischen Opportunität gearbeitet. Man tut so, als ob die Verkehrsführung über die Gitschiner Straße, die Skalitzer Straße und über die Oberbaumbrücke eine rationale Entscheidung wäre, die abgewogen das Wohl der Bürger im Auge hätte.

Man tut darüber hinaus so, als ob man diese Stadtstraße so beschleunigen könnte, daß dort kein Stau entsteht, so daß die Abgasbelästigung scheinbar für die Bürger in erträglichen Grenzen gehalten wird. Jedermann weiß aber, daß die Staus heute schon auf dem Tempelhofer Ufer, dem Halleschen Ufer und zum Teil schon auf der Skalitzer Straße vorhanden sind und daß diese Straßenzüge überhaupt keinen Verkehr mehr ertragen. Nimmt man darüber hinaus die europäischen Umweltnormen und die Umweltverträglichkeitskriterien für Stadtstraßen als Grundlage für eine weitere Verkehrsplanung ernst, so würde sich eine ernüchternde Bilanz ergeben.

Verkehrsplanerischer Wahnsinn

Verkehrsplanerisch passiert eigentlich Wahnsinn: Die Innenstadt soll verkehrsberuhigt werden, und die Bewohner werden gleichzeitig vertrieben oder verschwinden von allein. Also genau dort, wo eigentlich Ruhe herrscht, kann keiner mehr wohnen, und dort, wo die Leute wohnen, dorthin wird der Verkehr verlagert. Das ist keine Stadtplanung, das ist keine Verkehrsplanung, das ist bestenfalls das Eingeständnis einer totalen Ratlosigkeit oder schlimmstenfalls das Fehlen jeder politischen Handlungsfähigkeit, die eventuell in der Fortsetzung der miserablen Stadtplanung der letzten 80 Jahre in Berlin ihre Ursachen hat.

Man stelle sich einmal vor, im 19. und 20.Jahrhundert wäre die ehemalige Altstadt zwischen den Straßenzügen Wilhelm-Pieck-Straße, heutige Luisenstraße, Toleranzstraße und, sagen wir einmal Heinrich-Heine-Straße bis zur Kochstraße mit dem Schloß, dem Scheunenviertel, dem Nicolaiviertel, aber auch dem Potsdamer und dem Leipziger Platz sowie dem Straßenzug Potsdamer Straße nicht so von West und Ost plattgehauen worden, wie wir die Gegend heute vorfinden. Diese Altstadt würde, wie in Rom, Bologna und woanders auch, zügig beruhigt, und wir wären diese ganze Diskussion los. Wenn der Potsdamer Platz noch stehen würde, würde auch keiner einen Straßentunnel dort bauen. Und allein das Vorhandensein des Provisoriums Entlastungsstraße rechtfertigt noch keine Betonierung des Provisoriums unterirdischer Art durch einen Tunnel, sondern die Entlastungsstraße diente dem provisorischen Verkehr während des Stehens der Mauer und hat nun zu verschwinden.

Es stellt sich also die Frage, ob es überhaupt noch eine aktive Planung in dieser Stadt gibt oder geben kann oder ob die vernünftigste Planung vielleicht die ist, daß alles sich so lange weiterentwickelt, bis es zu einem relativ großen Verkehrscrash kommt. Insgeheim sehen viele Experten diesen großen Verkehrscrash auf Berlin zukommen. Es ist wie eine Art Verkehrs- Supergau: Die Zahl der zugelassenen Kraftfahrzeuge steigt immer weiter, die unbebauten Flächen werden bebaut, nichts geht mehr, und die Staus selbst verzögern die Lösungen so sehr, daß es zu Notmaßnahmen kommen muß. Sind dann Politiker, also gewählte Handelnde in der Lage, plötzlich rationale Maßnahmen zu treffen?

Diplom-Ingenieur Hans-Joachim Rieseberg ist Mathematiker, Architekt, Stadt- und Verkehrsplaner und Autor mehrerer Bücher über unsere zerstörerische Lebensweise.

Die nächste Folge der Serie erscheint am Montag kommender Woche.