Langes Warten auf Hilfe

■ Weder BVG-Beschäftigte noch die Polizisten kümmerten sich um die Niedergestochenen/ Ein Augenzeugenbericht

Freitag nacht. Ich (Name der Redaktion bekannt) wollte zusammen mit einem Freund nach Hause. Den Zug, den wir eigentlich erreichen wollten, hatten wir knapp verpaßt, sahen am Alex nur noch die Schlußlichter. Wir kamen deshalb an der Samariterstraße glücklicherweise erst an, als die Messerstecher schon wieder weg waren.

Als der Zug um zehn Minuten nach Mitternacht in der Samariterstraße hielt, stiegen mit uns noch rund zehn andere Menschen aus. Als ich die Treppe hochstieg, tauchte plötzlich vor mir ein Mann mit blutüberströmtem Gesicht auf. Auf dem Treppenabsatz angekommen, sah ich, daß dort zwei weitere Männer am Boden lagen. Der blutende Mann stolperte und taumelte zwischen den am Boden liegenden Personen hin und her. Ein Mädchen saß direkt neben einer Blutlache und versuchte, Erste Hilfe zu leisten.

Sie stand erkennbar unter Schock, ihre Handlungen glichen eher sinnlosen Bewegungen als effektiver Hilfe. Auch ihre Antworten auf meine Fragen blieben lückenhaft, fast waren es nur unzusammenhängende Worte: Messerstiche, Glatzen, Überfall. Bei näherem Hinsehen erkannte ich die verletzten Männer, weil ich sie in der Vergangenheit öfters vor dem Bahnhof stehen gesehen habe, wo sie um Geld baten. Auch ich stand hilflos daneben, verteilte Taschentücher an die blutenden Männer. Der Mann am Boden rührte sich kaum noch und hatte ein extrem blasses Gesicht.

Mein Freund benachrichtigte das Bahnhofspersonal. Der diensttuende Angestellte, so erzählte der Freund später, habe aber lediglich geantwortet: „Das weiß ich. Hier war schon einer.“ Keiner von den mit uns ausgestiegenen Menschen war stehengeblieben. Als sie verschwunden waren, blieb nur unsere kleine Gruppe zurück.

Auch kein BVG-Angestellter war anwesend. Erst mit der nächsten Bahn, zehn Minuten später, erschienen zwei Polizisten, die aber dieses Szenario wenig zu beeindrucken schien. Um den am Boden liegenden Mann kümmerten sie sich überhaupt nicht. Nur ihr Hund bellte wie verrückt und war kaum zu halten.

Ein Beamter hielt den Hund fest und beobachtete die Szene aus der Entfernung; sein Kollege verschwand am Ausgang. Auch von den Menschen, die der nächste Zug gebracht hatte, kümmerte sich keiner um die Verletzten. Sie hatten es alle sehr eilig: Man übersah uns mit Bedacht.

Nur ein Betrunkener war zur Hilfe bereit. Er versuchte, den am Boden liegenden Mann hin und her zu zerren. Zusammen mit dem nicht so stark betrunkenen Begleiter des Mannes mußten wir ihn immer wieder auf Abstand halten.

Nach weiteren zehn Minuten erschien endlich auch die Feuerwehr und die Polizei. Ein Notarzt konnte nicht mehr viel tun. Ich konnte nicht mehr. Mit mir verließ den Ort eine Gruppe von Hausbesetzern mit kriegerischen Gelüsten: „Denen werden wir's geben, los kommt.“ taz