Nach Europa, zum Beispiel

Libuše Monikovás politisch-historische Romangroteske  ■ Von Stefan Bruns

Der Roman beginnt in einem Schulzimmer in Ostgrönland, und es geht – was keinen der grönländischen Schüler interessiert – um „ein großes Bild der Swan Arene in London, eine vereinfachte Kopie der Zeichnung, die Arend van Buchel nach der Originalskizze Johannes de Witts von 1596 angefertigt hat“. Lehrer Prantl, der dies unterrichtet, war einmal ein tschechischer Widerstandskämpfer gegen die deutsche Okkupation, als Fallschirmspringer wurde er verwundet. Er verlor seine Frau bei einem Kinobrand in England. Heiratete eine Dänin, die für ihr Kind einen Vater suchte. Machte Platz, als der leibliche Vater wieder auftauchte. Bewarb sich dann nach Grönland. Aber warum interessiert ihn ausgerechnet Shakespeare? „Prantls Hang zur Radikalität kann sich an der elisabethanischen Bühne immer wieder entzünden.“ Und wenn die US-Luftwaffe die Grönländer „ungefragt mit Bomben überfliegt, können sie auch erfahren, woraus man früher Theater baute“. Solche Begründungen müssen genügen.

Prantl wird auf einen Pädagogen-Kongreß nach Österreich geschickt. Erst sträubt er sich: „Ich will nicht nach Europa, ich war dort sieben Jahre nicht, es muß nicht sein.“ Weder er noch die Autorin haben für den wissenschaftlichen Gehalt des Kongresses viel übrig. Für den scientific small talk und das Geschehen am Rande schon: Da geht ein sowjetischer Makarenko-Anhänger in die Luft, der Alkohol rivalisiert mit den obligaten Spitzeln des KGB um die Stammtischhoheit, „die antiautoritären Pädagogen aus Westdeutschland klatschen Beifall“. Ein satirisches Feuerwerk gegen die Dummheit politisch versklavter Wissenschaft.

Prantl geht lieber ins Gebirge. Eine japanische Familie lädt den Wanderer zum Champagner unterm Kirschbaum ein, im Rausch wird Prantl von einer Schlange gebissen. Der Schwellfuß führt zum Sturz, der Sturz wiederum zu Gesichten, welche Prantl eine mythische Gemse, dann einen Greif, dann eine halbnackte, an den Felsen gefesselte Frau vor Augen führen. Der Lehrer muß diese Promethea retten. „Idiot!“ ist ihre Antwort: Prantl hat eine Filmszene gestört und ein Stuntgirl „gerettet“. Folgt eine ebenso witzige wie irrwitzige Liebesszene. „Sie wundern sich beide nicht; nur, daß er so alt ist und sie so häßlich, das sagen sie aber nicht.“

Denn wichtig ist den beiden ihre Herkunft: Zwei tschechische Emigranten haben sich gefunden. Prantl hat der Heimat 1948 den Rücken gekehrt, Karla nach 1968, nach dem Einmarsch der „Bruderländer“: Gesprächsstoff für das ganze Buch. Die Gespräche ziehen Linien vom Hof Karl IV. zu Karlas Kindheit, von Prantls Schule in Grönland zum Heydrich-Attentat, vom Münchener Abkommen 1938 über Lidice zum Kino Sevastopol am Wenzelsplatz: Teilmengen gemeinsamer Erinnerungen, gemeinsamer Prägungen, Verletzungen. Selige Einigkeit wird nicht erzielt. „Sie gelangen an den Punkt, wo jeder ein anderes Land vor sich hat, das sie Tschechoslowakei nennen, mit schiefem Mund auch ,Heimat‘.“ Zentrum ihrer Gedanken ist Prag: verlorene Heimat, zugleich vielleicht die europäischste Stadt Europas. „Die habe ich mitgenommen“, sagt die Emigrantin.

Schon in Monikovás Roman „Die Fassade“ war Europa eine Utopie. Dem Mitteleuropa-Gedanken Milan Kunderas oder György Konrads steht Libuše Moniková eher distanziert gegenüber. „Für mich“, sagt sie, „war Prag immer eine eminent europäische Stadt, und dort ist für mich die Geschichte und die Kultur bis heute. Wenn ich über dieses Pflaster gehe und diese schädliche Luft atme, weiß ich, ich bin mitten in Europa. Ich war nie anderswo, als ich in Prag war.“

Monikovás Prag ist nicht Karlas Prag ist nicht Prantls Prag. Die Wiederannäherung zeigt die Gegenwart als etwas Absurdes, Fremdes, Unwirkliches. Alles Reale hingegen ist Geschichte. Die Gegenwart dieser politischen, historischen Liebesgroteske dient Moniková dazu, Geschichte in einer komischen Brechung zu inszenieren, als Theater, als Kopie – die Vergangenheit, die Kopie, löscht das Original, die Gegenwart, aus. Das mag ein Ausdruck für Monikovás politische Desillusionierung sein, aber auch für ihr Vertrauen in eine literarische Vermittlung? „Wer nicht liest, kennt die Welt nicht“, heißt es in „Die Fassade“.

Monikovás Leser lernt etwas über die Traditionen der Inuit (nicht „Eskimos“ zu sagen, lernt er auch), über Jan Hus und Comenius. Andere Rezensenten sahen in „Treibeis“ „eine Vorlesung über tschechische Geschichte“, monierten, hinter den gebildeten Gesprächen trete die Handlung zurück. Mir allerdings fällt kein/e deutschsprachige/r SchriftstellerIn ein, der/die ebenso leichtfüßig und komisch Kulturgeschichte zu einer Romanhandlung machte.

Moniková schreibt aus Zorn, aus Verletztheit, aus Liebe zu Prag, zur europäischen Kultur, aus Angst um sie. Sie braucht dazu Distanz. Die hat Moniková etabliert: Seit 1971 lebt sie in Berlin und schreibt nicht in ihrer Muttersprache. Der Roman aber verdankt sich der Suche nach Heimat, einer Heimat, von der man weggehen muß: „Nach Europa, zum Beispiel.“ Stefan Bruns

Libuše Moniková: „Treibeis“. Roman, Carl-Hanser-Verlag, München 1992, 234 Seiten, 34DM