■ Der deutsche Rechtsstaat wird mit der Hypothek des deutschen Unrechtsstaates juristisch nicht fertig
: Wider falsche Barmherzigkeit im Fall Erich Honecker

Wenn Erich Honecker nicht verurteilt wird, kann niemand verurteilt werden – er war der regierende Oberstalinist auf deutschem Boden. Es ist ganz typisch für die Hilflosigkeit des „Rechtsstaates“ als Nachfolgerin einer Diktatur, daß die Hauptanklage wegen der tödlichen Mauerschüsse erhoben wird, wo doch Erich Honecker weit darüber hinaus, erst als „junger Mann“ von Walter Ulbricht, dann als Kopf des Politbüros, nicht nur einer einer ganzen Generation von Deutschen das Leben gestohlen hat, sondern auch Herr des gesamten Repressionsapparates im Stasi-Staat war. Und während dieser von Honecker grenzüberschreitend in die dunkelsten antidemokratischen Machenschaften der Dritten Welt verstrickt wurde, hatte Margot Honecker die Freiheit, ihre irreparablen Verbrechen der Zwangsadoption zu begehen. Wahrlich – auch eine deutsche Familie, diese Honeckers.

Nicht etwa, daß der jetzige Angeklagte die Verantwortung allein getragen hätte – da gab es nur allzu viele allzu Hilfswillige, Angepaßte, Aktivisten, ohne die nichts gelaufen wäre, und die kopfnickend zu jeder Schandtat bereit waren. Aber der höchste Repräsentant dieses Käfigs hieß Erich Honecker. Stimmt, er selbst wiederum war auch Lakai, nämlich der Sowjetunion, jedenfalls solange sie stalinistisch war. Gegen die Sowjetunion der Perestroika und Glasnost des Michail Gorbatschow löckte er bekanntlich, unerhört gerade für einen deutschen Kommunisten, wider den Moskauer Stachel. Nichts charakterisiert den Mann so wie sein Wandel vom beflissensten Ja- Sager zum hartnäckigsten Widerständler eines zerfallenden Ostblocks, dessen Mitglieder dabei waren, die stalinistischen Fesseln abzuwerfen.

Problematisch der Vorwurf, westdeutsche Politiker hätten sich mit ihm „eingelassen“. Ja, wie denn nicht? 16 Millionen Deutsche waren doch das Faustpfand Erich Honeckers. Den späten Propheten, die heute so tun, als hätten sie immer schon den 9.November 1989 vorausgesehen, glaube ich kein Wort. Die Politik gegenüber Honecker und seinem Staat stand bis nahe an dieses Datum heran unter dem Unstern seiner unbegrenzten Weiterexistenz. Alles andere ist Schwindel!

Im übrigen bezweifle ich, nach allen Erfahrungen mit der fehlgeschlagenen Aufarbeitung des Nationalsozialismus, daß der Rechtsstaat mit der Hypothek der überwundenen Diktatur juristisch fertig werden wird, ich bezweifle das entschieden. Denn wieder soll „nach geltendem“, also DDR- „Recht“ geurteilt werden. Darf ich fragen, ob „geltendes Recht“ in einer Diktatur je etwas anderes sein kann als ihr Recht? Das DDR-Regime war ein Unrechtsstaat und produzierte am laufenden Band Gesetze des Unrechts. Was soll also diese aberwitzige Gleichung „Gesetz = Recht“, dieser tausendmal ad absurdum geführte deutsche Rechtspositivismus, mit dem nach 1945 schon die Nazitäter, allen voran die Blutrichter, freigesprochen wurden?

Das Prinzip auf die Spitze getrieben, hieße doch wohl: Wenn Adolf Hitler den Völkermord an den europäischen Juden in ein Gesetz gefaßt hätte – dann wäre es „geltendes Recht“ gewesen! Kann es noch perverser kommen, als diese formaljuristische Täterbegünstigung im Namen des „Rechts“? Aber genau das geschieht nun wieder, mit den Vorzeichen des Honecker-Staates. Daß der Bundesgerichtshof im Zusammenhang mit den Mauerschützen die höhere Ethik des „Menschenrechtes“ anrief, macht mich noch nicht zum Optimisten. Der Mauerstaat sei, so höre ich, aber doch nicht „so schlimm“ gewesen wie Hitlerdeutschland – stimmt! Jenes Deutschland war eine Einzigartigkeit in der Menschheitsgeschichte. Nur: Wird ein so unmenschliches System wie das des realexistierenden Sozialismus etwa weniger unmenschlich dadurch, daß es ein noch unmenschlicheres gab?

Aber Honecker – der Greis, der Todkranke! Auch diese Melodie kenne ich nur zu gut – aus der alten Bundesrepublik, als es galt, die Spätangeklagten des Hakenkreuzes auf die Anklagebank zu zitieren. Da brachten Chefs von Gestapo-Leitstellen, Judendeporteure und Massenmörder der mobilen Todesschwadronen ihre ärztlichen Rezepte herbei – auch sie alte, gebrechliche Männer inzwischen (im Gegensatz zu Honecker allerdings blieben die meisten von ihnen haft- und gerichtsverschont).

Und heute? Unser Land trieft wieder mal von Barmherzigkeit – mit den Mördern.

Aber Erich Honecker habe doch unter den Nazis zehn Jahre im Zuchthaus gesessen! Das halte ich für strafverschärfend. Denn, und das erkläre ich mit der vollen Legitimation eines Überlebenden des Holocaust: Wer sich aus einem verfolgten Antifaschisten in einen verfolgenden Stalinisten verwandelte, der handelte besonders verwerflich. Es kann für ihn keinen KZ-Bonus geben.

Das sei „Rachementalität“, „Vergeltungsdenken“? Auch die Töne sind unvergessen. Ihre Souffleure sind die Mächtigen von gestern selbst, und ihre Anhänger, sie, die unterdrückt und gemordet haben ohne jegliches Rache- und Vergeltungsmotiv – Vollstrecker einer Diktatur, die für ihre Verbrechen niemals ein anderes Motiv hatte, als die Verlängerung der eigenen Unrechtsexistenz. Deutschland, deine Täter! Ralph Giordano

Schriftsteller und Publizist