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Rechte erstachen Hausbesetzer

■ Nach Angriff in Berliner U-Bahnhof ließen Passagiere und Personal den Verletzten verbluten

Berlin (taz) – Der 27jährige Berliner Hausbesetzer Silvio M. ist in der Nacht zum Samstag von einem etwa 22 Jahre alten Mann aus der rechten Szene erstochen worden. Die Tat ereignete sich gegen Mitternacht im U-Bahnhof Samariterstraße im Ostberliner Bezirk Friedrichshain. Zwei Freunde des Opfers wurden schwer verletzt. Eine junge Frau, die die drei Hausbesetzer zum U-Bahnhof begleitet und den Angriff aus nächster Nähe beobachtet hatte, erlitt einen Schock.

Nach Angaben der Polizei, die inzwischen die Frau und ein Opfer vernommen hat, wollten die vier jungen Leute in Richtung Alexanderplatz zu einer Disco fahren, als sie auf dem U-Bahnhof plötzlich auf eine Gruppe rechter Jugendlicher trafen. Einer der Rechten trug das Emblem „Ich bin stolz, ein Deutscher zu sein“ auf seiner Jacke – die Hausbesetzer fühlten sich provoziert, schubsten den Mann und versuchten, den Aufnäher herunterzureißen. Im Verlauf der Auseinandersetzung zog ein anderer Rechter „für alle überraschend“ – so der Polizeibericht – sein Messer und stach auf Silvio M., seinen 21jährigen Freund Ekkehard S. sowie den 25jährigen Jörn F. ein. Danach flüchtete die rechte Clique in eine Seitenstraße.

Eine kurz nach dem Angriff am Tatort eingetroffene Frau berichtete der taz, daß sich weder die U-Bahn-Fahrgäste noch das Dienstpersonal um die am Boden liegenden Opfer gekümmert hätten. Nur sie selbst, ihr Freund und die unter Schock stehende Frau hätten versucht, Erste Hilfe zu leisten. „Ich hatte nur Taschentücher dabei, ich konnte nicht viel machen!“ sagte sie. Obwohl der Zugführer von einem Jugendlichen über die Tat informiert worden war, setzte der Mann seine Fahrt fort – mit ihm verschwand auch der Erste-Hilfe-Kasten, der sich an Bord jedes U-Bahn-Zuges befindet. Als ein Fahrgast einen U-Bahnhof-Abfertiger um Hilfe bat, habe dieser geantwortet: „Das weiß ich. Hier war schon mal einer!“

Über das Eintreffen der Polizei und der Feuerwehr liegen der taz widersprüchliche Aussagen vor. Der Zug, in dem sich der Täter aufhielt, stoppte um 23.57 Uhr im U-Bahnhof. Nach Polizeiangaben seien der Rettungswagen und die Polizei bereits um 00.11 Uhr am Tatort gewesen. Dieser Version widerspricht die Augenzeugin. Sie sei mit der nachfolgenden U-Bahn gegen zehn nach zwölf am Tatort eingetroffen. Auch nachdem die nächste U-Bahn zehn Minuten später gehalten habe, sei sie mit dem verblutenden Hausbesetzer alleine gewesen. Nur zwei Bahnpolizisten mit Hund seien aus dem dritten Zug ausgestiegen, aber hätten ebenfalls nicht eingegriffen. Lediglich ein Betrunkener wollte helfen, „aber dazu war der gar nicht mehr in der Lage“!

Nach Angaben der Polizei erlag Silvio M. eine Stunde nach dem Überfall im Krankenhaus seinen Verletzungen.

Silvio M. gehörte zur Oppositionsbewegung in der DDR, war in der „Kirche von unten“ aktiv. Am 7. Oktober 1989 verhafteten ihn Volkspolizisten während einer Demonstration in Ostberlin. Zuletzt hatte er in einem besetzten Haus in der Friedrichshainer Schreinerstraße gelebt und in einer benachbarten Druckerei gearbeitet.

Der Überfall hat nicht nur in der Hausbesetzerszene Wut und Trauer ausgelöst. Noch in der Nacht zum Samstag versammelten sich etwa 150 Autonome zu einer Demonstration. Am U-Bahnhof Samariterstraße ist seit Samstag nacht eine ständige Mahnwache eingerichtet – dort herrscht gelähmtes Entsetzen.

Die Parteien haben den Vorfall bisher nicht kommentiert – vermutlich deshalb, weil die Polizei erst gestern über die politischen Hintergründe der Tat informiert hat. Zuvor war im Radio und in den Berliner Sonntagszeitungen nur von einem nebulösen „Bandenkrieg“ die Rede gewesen.

Am späten Samstag nachmittag nahmen etwa sechshundert Menschen an einer eilig organisierten antifaschistischen Demonstration durch Friedrichshain teil. An einem Trauermarsch durch Friedrichshain beteiligten sich gestern über tausend Menschen. Bis zum Redaktionsschluß blieb die Demonstration friedlich. Claus Christian Malzahn

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