Bruder Klatscher

Debatte

Bruder Klatscher

Vor einer Woche hatte die taz zur Debatte geladen, betreffend Joshua Sobols Stück „Ghetto“ im Schaupielhaus. Anlaß war vor allem die sonderbare Figur des Faschisten Kittel gewesen, eines rasanten Gemütsmenschen von geradezu bezwingender Jovialität. Die Frage war, ob der Faschismus ein kollektiver Wutausbruch von Räuberhauptmännern gewesen ist. Heute antwortet Andreas Keller, der Darsteller des Kittel.

hierhin den

jungen Kahlkopf

Deutsche Staaten haben sich nicht nur eimal in Katastrophen geschusselt. Nach dem „Erwachen“ standen die Jubler von einst vor der Weltöffentlichkeit mit gesenktem Haupt, und stammelten: „...nicht gewußt, nicht geahnt, wollten wir nicht, nicht schuld, wir sind alle nur Opfer,...“ Selbst der NS-Verbrecher Kittel wird sich „danach“ als Opfer begreifen, das wegen Krieg und Dienst fürs Vaterland seine Karriere als Künstler aufgeben mußte. Gestehen wir ihm zu, dieses erst einmal nicht gern getan zu haben. Aber was dieser vielleicht sogar „typische Deutsche“ einmal anfaßt, das macht er eben gut und mit Eigeninitiave. Er wird „danach“ verständnisvolle deutsche Zuhörer finden, ja er wird sogar von sich behaupten, ein heimlicher Antifaschist gewesen zu sein, denn er hat ja Jazz gehört, obwohl das verboten war. Kittel ist eben nicht der außergewöhnliche miese Kerl mit der zernabten Visage, hinter der wir uns heute verstecken könnten unter dem Motto: „Das war ein Ausrutscher, mit dem hatten wir damals — und mit denen in Rostock heute haben wir erst recht nichts zu tun!“

Das jüdische Volk ist eben nicht das Opfer von sechs Millionen Ausrutschern geworden. Hier geht es um systematische Vernichtung; es geht darum, wie ein Biedermann zur Mordmaschine wird.

Es gibt ja bereits den Samen einer neuen Bedrohungsphilosophie des vereinigten deutschen Volkes. Seine Gärtner sind die Beifallklatscher in der ganzen Republik (denn es wurde nicht nur in Rostock geklatscht). Ostdeutsche sind beleidigt, weil man ihnen die vermeintliche Würde nimmt, Westdeutsche, weil man ihnen an den „verdienten“ Wohlstand geht. Zwei beleidigte Leberwürste wollen eine Pastete werden und wundern sich über den miesen Geschmack. Da kann doch nur ein ausländisches Gewürz das Aroma versaut haben...Am Ende hat wieder keiner etwas Böses gewollt.

Kittel, diese Figur ist ein Balanceakt ohne Netz. Er darf nicht berechenbar sein. Am Ende zählt einzig und allein die Tat. Kittel mordet, an der Mauer und in Stasigefängnissen wurde getötet und gequält, und im neuen „Großdeutschland“ werden Ausländer gejagt und angezündet. Der freundliche Mann, die Frau neben dir, alles potentielle Kittels, wenn ihnen der Boden bereitet wird. Unter dem wahnsinnigen Druck sozialer Abhängigkeiten ist so ziemlich jedes Extrem möglich. Das Böse erkennt man eben nicht an der Visage oder am Ton, sondern nur an der Tat. Oder? Andreas Keller

Am 6. Dezember um 17 Uhr findet im Schauspielhaus ein Publikumsgespräch über „Ghetto“ statt. Mit dabei: das Ensemble und Joshua Sobol, der Autor und Regisseur.