Die Kamera darf nicht diktieren

■ Der Dokumentarfilmer Gordian Troeller im Gespräch über Eurozentrismus und „Scherzverwandtschaft“

„Es geschah vor etwa 20 Jahren. Die schwarze Bevölkerung des Südsudan hatte sich gegen die Herrschaft des arabischen Nordnes erhoben. Wir wollten einen Film bei den Rebellen drehen und mußten heimlich von Uganda in den Sudan geschleust werden. Sieben Männer und vier Frauen vom Stamm der Kakua erwarteten uns am Ufer des Flusses, der hier die Grenze bildet. Die Frauen trugen nur Lendenschurze. Der Rest ihrer ,Bekleidung‘ bestand aus rituellen Narben. Wir mußten durch den Fluß schwimmen. Die Frauen nahmen Marie-Claude [Deffarge, Troellers damalige Mitarbeiterin und Lebensgefährtin, d. Red.] in ihre Mitte, die Männer schwammen neben mir. Es gab Komplikationen mit Treibholz und Krokodilen, und wir konnten nur mit größter Anstrengung ans andere Ufer gelangen. Dort umarmten wir uns. Eine rührende Szene, die nach Brüderschaft aussah. Anschließend wurde im Wald gegessen, aber da waren wir wieder getrennte Gruppen. Wir saßen auf einer Zeltbahn, und unsere Begleiter hockten 20 Meter entfernt auf dem Boden. Obwohl wir sie immer wieder aufforderten, sich zu uns zu setzen, lehnten sie ab. Am nächsten Tag war es nicht anders. Doch diesmal machten wir nicht den Fehler, sie zu bitten, sondern nahmen unser Essen und setzten uns zu ihnen. Die Diskussion, die hierdurch ausgelöst wurde, dauerte die ganze Nacht.

Sie hatten uns das Leben gerettet, doch mit uns zu essen, das glaubten sie nicht zu dürfen. Einer so intimen Beziehung fühlten sie sich nicht würdig. Nach langem Gespräch kam es an den Tag: Sie waren überzeugt, keine richtigen Menschen zu sein, höher entwickelte Affen vielleicht. Aber Menschen nicht. Noch nicht. Das hatten Missionare ihnen gesagt. Dieses ,Noch-nicht-Sein‘, als Vorbild aufgezwungen, gepredigt oder vorgelebt, diktiert ihr Verhalten. Verinnerlichung der vom Westen geformten und dank seiner materiellen Überlegenheit akzeptierten Überzeugung, daß die menschliche Entwicklung nur in eine Richtung gehen könne: in die von Europa vorgezeichnete. Im Südsudan wurde dies in dramatischer Weise erlebt und ausgesprochen. [...]

Die Missionare hatten erklärt, daß alle Schwarzen mit unsichtbaren Affenschwänzen auf die Welt kämen, die erst abfielen, wenn sie sich taufen ließen. Erst dann könnten sie sich langsam zu wahren Menschen entwickeln. (...)

All das wurde uns in dieser Nacht erzählt, und immer wieder hieß es: Was haben wir nur getan? Welche Schuld haben wir auf uns geladen? Warum haben uns böse Mächte so arg mitgespielt?

Solche Fragen waren vor der Ankunft der Araber und Europäer nicht gestellt worden. Es hatte Nachbarn gegeben, die anders waren, etwas heller oder dunkler, vielleicht tüchtiger im Jagen oder weniger vertraut mit den Tieren. Sie hatten ihre Tänze und Sitten, und man hatte seine eigenen. Man konnte von anderen lernen, aber Vorbild waren sie nicht. Mit dieser Arroganz traten erst die Araber und Europäer auf. Aus dem ,Nicht-so-sein‘ wie andere wurde das ,Noch-nicht-so-Sein‘.“

„Was konnten wir mit dieser Erkenntnis anfangen? Worte können Situationen klären, aber Verhalten nicht ändern. Durch Zufall hatten wir die einzige Beziehung hergestellt, die das Minderwertigkeitsbewußtsein aufheben konnte: die ,Scherzverwandtschaft‘. Sie ist in vielen Kulturen üblich. Durch Scherze, Blödeleien und Schabernacks werden Situationen geschaffen, in denen niemand sich mehr ernst nimmt oder ernst genommen werden will. Wir nennen sie ,Wilde‘ und ,Neger‘, sie uns ,Besserwisser‘ und ,Imperialisten‘. Alle Vorurteile werden ausgesprochen und direkt auf die Person bezogen. Schon nach wenigen Tagen haben all diese Vorurteile ihren Sinn verloren. Jeder ist gleich viel wert. Der Einfallsreichtum unserer ,Scherzverwandtschaft‘ wuchs täglich. (...)

Fast überall konnte in traditionellen Gesellschaften ein partnerschaftliches Verhältnis nur dank der scherzhaften Überspitzung der Vorurteile hergestellt werden.

Nie eine Szene stellen

„Filmen kann man unter solchen Bedingungen, ohne fürchten zu müssen, etwas zu verfälschen. Die Kamera gehört zum ,Scherzverwandten‘ genauso wie sein Arm und seine Augen. Er nimmt durch das Objektiv am täglichen Geschehen teil. Aber stellen darf man keine Szene, wiederholen, was eindrucksvoll und typisch schien. Dann fühlen sich die Beteiligten wieder unter Aufsicht, als Objekt, und keine Bewegung stimmt mehr. Ja, es zerstört sogar das Vertrauensverhältnis, das sich langsam entwickelt hat. Plötzlich wird die Kamera eine Autorität, die diktiert, was getan werden soll – und sogar wie. Deshalb lasse ich nie eine Szene stellen. Sie kann die Realität nicht wiedergeben, sie wird zum Theater – nicht nur in traditionellen Gesellschaften, sondern überall.

Unser immer noch schwelender Eurozentrismus wurde durch ein anderes Erlebnis endgültig erschüttert.

Wir hatten das Glück, den Jemen zu besuchen, bevor das Land sich der Außenwelt öffnete. Kontakte zu ihren Nachbarn pflegten die Jemeniten zu haben, doch niemand hatte sie erobert und ihnen seine Kultur als die bessere aufgezwungen. Wir standen Menschen gegenüber, die keinen Grund hatten, ihre Lebensart zu rechtfertigen. Was sie taten, war richtig, und was wir taten, akzeptierten sie als unsere Eigenart. Wir handelten verschieden, doch wir waren Gleiche. Kein Jemenit schämte sich, dem getöteten Feind die Ohren abzuschneiden, und niemanden erstaunte es, daß wir uns die Zähne mit Bürsten putzten. [...]

Im Gegensatz zu den Kakua, die zu Minderwerten gestempelt worden waren und sich als solche fühlten, waren die Jemeniten mit sich selbst zufrieden, ja stolz, so gute Krieger, Bauern und Moslems zu sein. Gottes Lieblinge sozusagen, genau wie wir.

Beschämende „Modernisierung“

Zehn Jahre später kamen wir in den Jemen zurück. Das Ergebnis der Öffnung, der „Modernisierung“, war erschütternd. Diesmal mußten wir Scherzverwandtschaft wie im Sudan spielen, um mit alten Bekannten noch verkehren zu können. Filmen war schwer geworden. Wenn wir die Kamera hoben, winkten sie erst einmal ab, verschwanden im Haus und kamen in ihren besten Kleidern zurück. Was nach den eingeführten Kriterien arm und rückständig wirkte – und das war jetzt ihr ganzes Leben – beschämte sie. [...]

Das hatte die Modernisierung geschafft, die auch wir 1962 noch befürwortet hatten. Damals berichteten wir über die Revolution der Militärs und hatten noch alle gängigen Vorurteile im Kopf: ein feudales System, ein mittelalterlicher Herrscher, sein Sturz war nur zu begrüßen. Endlich konnte das Land ins 20.Jahrhundert geführt werden und sich der Welt öffnen. Selbstverständlich ergriffen wir Partei für die Revolutionäre und berichteten so überzeugend, daß die Bundesrepublik als erster westlicher Staat die Arabische Republik Jemen anerkannte.

Zehn Jahre später war die Landwirtschaft ruiniert, überall herrschte Korruption, prächtige Bauten waren dem Erdboden gleichgemacht worden, um Straßen für die jetzt eingeführten Autos zu bauen und moderne Hotels für Touristen. [...]

„Es fiel uns wie Schuppen von den Augen, und wir prägten den Begriff der ,Vor-Unterentwicklung‘. So bezeichneten wir einen Zustand, in dem die Wirtschaft eines Landes ausschließlich auf die Bedürfnisse der Bevölkerung ausgerichtet ist. Erst wenn ein Land in den Welthandel eingeklinkt wird, wenn seine Wirtschaft den Gesetzen des Weltmarkts ausgeliefert ist, erst dann beginnt jener Prozeß, den wir heute Unterentwicklung nennen. [...]

Daß der Kapitalismus jetzt triumphierend seinen Sieg feiert, ist ein Hohn, denn seinen Erfolg im Norden der Erde zahlen zwei Drittel der Menschheit mit fortschreitender Verarmung und mit Millionen von Hungertoten. [...]“

Gekürzter Vorabdruck mit freundlicher Genehmigung aus dem noch in diesem Monat erscheinenden Buch: „Kein Respekt vor heiligen Kühen – Gordian Troeller und seine Filme“, edition CON, Bremen, ca. 200 Seiten, 25 Mark.