Todestreck durch bosnische Berge

Vertriebene aus Nordbosnien berichten über Verbrechen serbischer Soldaten, denen sie auf ihrer Flucht nach Travnik ausgesetzt waren: „Sie erstechen sie. Sie werfen sie in die Schluchten.“  ■ Von Roy Gutman

Die schmale Bergstraße ist übersät mit Koffern, Spielsachen und Kleidern – Spuren flüchtender Menschen. In den Schluchten liegen Leichen.

Fast nirgends auf diesem Pfad über den bosnischen Vlasic-Berg gibt es ein Geländer oder überhaupt einen Schutz. Etwa 40.000 moslemische und kroatische Flüchtlinge wurden in den letzten vier Monaten von bosnischen Serben diese gefährliche Serpentine hinabgetrieben und mit vorgehaltener Waffe in die noch freien Gebiete Zentralbosniens gejagt.

In kurzen Abständen stehen serbische Soldaten in Gruppen von fünf oder sechs Mann am Rand des drei Kilometer langen Weges, schießen mit ihren Maschinenpistolen in die Luft und fuchteln mit Messern herum, berauben und vergewaltigen die Vertriebenen, wie Augenzeugen berichten. In dem Gewühl, das besonders nachts herrscht, müssen die Männer, Frauen und Kinder oft alles zurücklassen, auch ihre Papiere.

„Sie haben die Menschen beraubt, sie nahmen ihr Gold, ihr Geld, ihren Schmuck, alle Wertsachen. Den Männern nahmen sie die Kleider weg. Ich war nackt wie ein Neugeborenes“, sagt ein Mann, der kürzlich aus Kotor Varos kam. „Skija“, 36 Jahre alt, will nur seinen Spitznamen nennen. Er berichtet, er habe mit angesehen, wie serbische Wachen zwei Männer ermordeten und in eine Schlucht warfen. Den lokalen Behörden zufolge sollen mindestens vierzig Flüchtlinge auf diese Art ermordet worden sein.

Die Ärzte im nahegelegenen Krankenhaus von Travnik berichten, sie hätten einen Mann mit schweren Stichwunden aufgenommen. Eine Frau bekam im Niemandsland ein Kind. „Die Menschen, die auf der Straße Probleme hatten, waren jenseits jeder Kontrolle“, sagte Beat Schweitzer, der Leiter der Roten-Kreuz-Delegation in Banja Luka, der den Konvoi nach Travnik begleitete. Es war der erste Konvoi, den das Internationale Rote Kreuz begleitete.

Moslems und Kroaten, die vor den brutalen Übergriffen – der sogenannten „ethnischen Säuberung“ – in Nordbosnien geflohen sind, beschreiben den Treck den Vlasic-Berg hinab als den schlimmsten aller Schrecken, aber sie sehen ihn auch als ihre letzte Hoffnung auf Rettung. Seit das benachbarte Kroatien die Grenzen schloß, weil andere Länder keine Flüchtlinge mehr aufnehmen wollten, ist dies der einzige Fluchtweg.

Der bosnische Serbenführer Radovan Karadžić war in dieser Nacht nicht zu erreichen, aber in der Vergangenheit hat er immer wieder abgestritten, daß es zu Massakern, Mißhandlungen, Vergewaltigungen oder auch nur Vertreibungen von moslemischen und kroatischen Zivilisten aus den von Serben beanspruchten Gebieten gekommen sei. Ein serbischer Militärkommandeur auf dem Vlasic- Berg, der seinen Namen nicht nennen wollte, sagte: „Wir sorgen hier lediglich für Sicherheit. Wir behandeln die Leute auf die menschlichste Art und Weise.“

Bosnische Offizielle in Travnik sagen, etwa 40.000 Flüchtlinge hätten den Weg über den Berg geschafft. Es gibt viele Berichte von Massengräbern nördlich des Vlasic-Berges. Dort, so heißt es, seien Busse mit Männern im wehrpflichtigen Alter angehalten, die Fahrgäste ermordet worden.

Mehrmals wöchentlich fährt ein schlanker, angespannter Mann mit stählernen Nerven den Vlasic- Berg hinauf. Zvonko Bajo leitet als Vertreter der Stadt Travnik die Kommission für den Kriegsgefangenenaustausch und ist gewöhnlich der erste Offizielle, der die Vertriebenen begrüßt, wenn sie barfuß, unangekündigt und unter Beschuß eintreffen. Er führt auch die Gespräche mit den serbischen Militärvertretern aus Bosnien, die den Flüchtlingsstrom kontrollieren.

Letzte Woche, nachdem zum ersten Mal seit Kriegsbeginn im April ein Austausch nur für Zivilisten organisiert worden war, erhielt Bajo von der serbischen Seite die Erlaubnis, sich von einem Reporter und einem Fotografen auf den Berg begleiten zu lassen. Er hängte eine Fahne mit einem roten Kreuz, die seine Frau genäht hatte, an einem kleinen Ast aus dem Fenster seines bescheidenen grünen Autos. Kurz zuvor, bei einem Vorgespräch auf der Hochebene in zweitausend Meter Höhe, hatte Bajo berichtet, die Serben hätten sein Leben bedroht, weil er nicht alle Serben ausgetauscht hatte, die auf ihrer Liste standen. „Sie haben nicht alle abgeliefert, wie sie es versprochen hatten“, sagte Bogdan Ristic, Bajos serbischer Verhandlungspartner, gegenüber der Presse. Bei dem Abstieg nach dem Gefangenenaustausch begannen die Serben, auf Ziele im Tal zu schießen. Bajo fuhr mit ausgeschalteten Scheinwerfern den Berg hinunter. Das passiere öfter, berichtet er.

Über der Hochebene liegt eine unheimliche Stille. Hier machen sich die Füchtlinge auf den Weg, beladen nur mit ein paar Habseligkeiten aus den kaputtgeschlagenen und manchmal zusammengeschossenen Bussen, aus den von der serbischen Regierung organisierten Konvois aus anderen Orten im nördlichen Bosnien. Auf dem Weg werden sie gewöhnlich mehrfach überfallen und beraubt. Die Hochebene ist Ausgangspunkt für die letzte, alptraumhafte Etappe, die Serpentine hinunter.

Das einzige Gebäude, eine Skihütte, ist von Schüssen zerfetzt, und serbische Offiziere in einem kleinen Wohnwagen bemerken bald die ersten journalistischen Besucher aus dem Westen. „Sagen Sie Ihren Lesern, daß die Serben für eine zivilisierte Welt kämpfen“, sagt ein Offizier mit kurzgeschnittenen grauen Haaren, der seinen Namen nicht nennen möchte. Er spricht serbokroatisch und macht dem amerikanischen Reporter Vorwürfe, weil dieser die Sprache nicht beherrsche.

Während des Gesprächs über die humanitäre Versorgung der Flüchtlinge in dieser Gegend nähert sich ein halbes Dutzend Männer in Khaki-Uniformen ohne Abzeichen schweigend über einen grasbewachsenen Hügel. Wortlos stehen sie um die Besucher herum. Im Dämmerlicht des Spätnachmittags sind ihre Messer in den Scheiden deutlich erkennbar. Dies, bestätigt Bajo später, sind die „Geier“, die die Flüchtlinge „berauben, vergewaltigen und umbringen. Sie ziehen ihnen die Kleider aus. Sie erstechen sie. Sie werfen sie in die Schluchten“, sagt Bajo. Aber jetzt, wie auf ein Stichwort der serbischen Offiziere, stehen sie lediglich herum und sehen zu, während das Gespräch zu Ende geht.

Ein kroatischer Schäfer, der seine Herde an der Straße hütet, wo die Flüchtlinge vorüberkommen, erzählt, er höre manchmal alte Menschen schreien, die den Berg herabgeworfen worden seien. „Ich habe Eltern gesehen mit toten Kindern in den Armen. Ich habe einige alte Leute in Schubkarren ankommen sehen“, sagt er. „Dem letzten Konvoi nahmen sie alle Lederjacken weg. Wenn sich jemand beschwerte, erstachen sie ihn“, berichtet der Schäfer, der uns seinen Namen nannte. Bei einem anderen Konvoi, aus der Stadt Kljuc, wurde eine Gruppe Kroaten die ganze Nacht auf dem Berg festgehalten. „Die Frauen kamen tränenüberströmt an. Sie waren aus den Bussen geholt und nackt ausgezogen worden. Die Hübschen hatten sie weggebracht. Niemand wußte, wohin. Man konnte nur ihre Schreie hören“, sagt der Schäfer.

Die Behandlung ist nicht immer gleich. Am 3. November wurden Zivilisten in einem Konvoi mit elf Bussen aus dem nahegelegenen Kotor Varos ausgeraubt, aber die Flüchtlinge darüber hinaus nicht belästigt, wie eine Frau berichtet. „Sie raubten uns aus, als wir aus den Bussen stiegen. Wenn sie eine Lederjacke sahen, nahmen sie sie. Sie durchsuchten unser ganzes Gepäck“, sagt die Frau, 24 Jahre alt, die nur unter ihrem Spitznamen „Biba“ genannt werden will. Biba, die kein Kind hat, trug – wie auch andere junge Frauen – in einem Sack auf dem Rücken ein dreijähriges Kind, um nicht belästigt zu werden. „Macht vorwärts, damit eure Leute euch umbringen können“, befahlen serbische Soldaten auf dem Berg, wie sie sich erinnert. Weiter unten verlangten sie alle Wertsachen und drohten, sie umzubringen. „Weil ich kein Geld hatte, mußte ich meinen Ehering hergeben.“ Biba erlebte nur einen Übergriff mit: als ein serbischer Wachposten den 45jährigen Leiter der Gruppe einen Abhang hinunterstieß. Nach einem Absturz von etwa fünfzehn Metern konnte er sich jedoch retten.

Die Terrortaktik der „ethnischen Säuberungen“, der die Bosnier die Gefahren des Vlasic-Berges vorziehen, ist inzwischen bekannt. Weniger bekannt ist, welche bürokratischen Hürden die serbischen Behörden errichtet haben, bevor sie die Erlaubnis zur Abreise erteilen. „In Banja Luka zum Beispiel muß man zwölf verschiedene Bescheinigungen vorlegen, um die Stadt verlassen zu dürfen. Man muß dem Staat all sein Eigentum übertragen. Man muß sogar eine Bescheinigung von der Bibliothek vorlegen, daß man alle Bücher zurückgegeben hat“, berichtet Saed Saric, Leiter des bosnischen Moslem-Büros in Travnik, das Informationen über Kriegsverbrechen zusammenträgt. Die Behörden kassieren dann bis zu 300 Mark pro Person für den Transport zur Hochebene auf dem Vlasic-Berg, wo die Vertriebenen häufig stundenlang in den Bussen warten müssen und mit vorgehaltener Waffe ausgeraubt werden.

Skija, mit dessen Konvoi 1.800 Menschen transportiert wurden, berichtet, er habe in einem von vier Bussen voller Männer gesessen, die von einer paramilitärischen Gruppe auf dem Weg von Kotor Varos aufgehalten worden seien, anscheinend mit der Absicht, sie niederzumachen. Nachdem sie einige Kilometer eine Landstraße entlanggefahren waren, wurden sie von bosnischer Serbenpolizei befreit und konnten sich dem Konvoi wieder anschließen. „Es gab eine Konfrontation, und die lokalen Tschetniks eröffneten das Feuer auf einen der Busse“, sagt er und benutzt den Namen der Königstreuen aus dem Zweiten Weltkrieg, an denen sich jetzt viele paramilitärische Gruppen orientieren. Mit dem Rest des Konvois verbrachten die Männer die Nacht auf dem Berge Babanovka, früher berühmt wegen seiner Skisprungschanze. In der Nacht erlaubten die serbischen Wachen den lokalen paramilitärischen Kräften, in die Busse einzudringen und die Fahrgäste auszurauben.

„Sie nahmen alles, was sie kriegen konnten. In manchen Bussen erbeuteten sie 5.000 bis 6.000 Mark.“ Um acht Uhr morgens kamen sie auf der Hochebene des Vlasic an und begannen den Abstieg. „Die Banditen warteten schon auf uns. Sie raubten uns wieder aus. Sie verlangten unsere Koffer. Sie nahmen unsere Jacken, sie nahmen unsere Schuhe und Socken. Zum Glück war es ein warmer Tag.“

Skija, der in Zenica im Büro des bosnischen Zentrums zur Untersuchung von Kriegsverbrechen befragt wurde, erzählt von dem ersten Mord, den er miterlebte – an einem Mann von etwa sechzig Jahren. „Er hatte kein Geld dabei. Da zog der Tschetnik den Abzug und feuerte fünfzehn bis zwanzig Kugeln auf ihn ab.“ Einen weiteren Mann etwa im gleichen Alter erstach der Soldat; anscheinend hatte er den Befehl nicht befolgt, sich an einem steilen Abhang aufzustellen, um sich ausrauben zu lassen.

Die Vertriebenen überschritten die bosnischen Linien, aber mehrere Männer, die in der Gegend von Kotor Varos zu den kroatischen Kämpfern gehört hatten, übten Gerechtigkeit auf ihre Art: „Sie gingen zurück, entwaffneten den Tschetnik und warfen ihn in die Schlucht“, sagt Skija.

Aus dem Amerikanischen von Meino Büning