Die Angst ist ein Stück nähergerückt in Friedrichshain

■ Verunsicherung und Wut nach dem Mord an Silvio Meier/ Vorwürfe an die Polizei

Berlin (taz) – Das Zwischengeschoß am U-Bahnhof Samariterstraße im Berliner Bezirk Friedrichshain ist mit Blumen übersät. Hier wurde in der Nacht zum vergangenen Samstag der 27jährige Hausbesetzer und frühere DDR- Oppositionelle Silvio Meier von Rechtsradikalen erstochen. Seitdem erinnert eine Mahnwache die PassantInnen an das schreckliche Ereignis. Die Treppe zum Bahnsteig mit den Blumengebinden und brennenden Kerzen wird von einem Mädchen saubergekehrt. Ein älterer Mann, der sich das Flugblatt „Silvio ist tot“ durchgelesen hat, spendet spontan Geld.

Der Überfall auf Silvio Meier und seine drei FreundInnen erschüttert den Friedrichshainer Kiez. Was man sonst allenfalls in den Berliner Plattenbaubezirken oder Brandenburger Kleinstädten und damit weit weg vermutete, hat nun einen Stadtteil eingeholt, in dem Hausbesetzer und Autonome seit Anfang 1990 heimisch sind.

Wenige Meter vom U-Bahnhof Samariterstraße entfernt findet am Sonntag abend eine Pressekonferenz statt. Die Angehörigen und Freunde der Überfallenen richten schwere Vorwürfe gegen die Polizei, die kurz nach dem Vorfall von einem „Bandenkrieg“ und innerlinken Auseinandersetzungen gesprochen hatte. Noch am Sonntag, so behaupten Silvios Freunde auf der Pressekonferenz, hätten Beamte der ermittelnden Mordkommission einen der Verletzten aufgefordert, der erklärt hatte, die Täter wären Rechtsradikale gewesen, seine Aussage zurückzunehmen. Eine entsprechende Tonbandaufzeichnung sollte dann, so eine Besetzerin zur taz auf dem Trauermarsch eingespielt werden. Im Berliner Innenausschuß sprach der stellvertretende Polizeipräsident Dieter Schenk gestern davon, daß die Beamten lediglich den Auftrag gehabt hätten, den Verletzten davon zu überzeugen, „beruhigend auf die Demonstrationsteilnehmer einzuwirken.“

„Größer könnte die politische Heuchelei in diesem Land nicht sein“, kritisierte ein Freund Silvios das widersprüchliche Verhalten der Polizei. „Auf der einen Seite fordern Politiker die Leute zu couragiertem Handeln auf, und die Polizei denunziert im gleichen Atemzug diejenigen, die dies ernst nehmen, als Beteiligte einer angeblich unpolitischen Messerstecherei.“

Am Sonntag nachmittag zogen mehrere tausend Menschen in einem Trauermarsch durch Friedrichshain und Prenzlauer Berg. Die Stimmung war alles andere als aggressiv. Viele der Anwesenden hatten noch gar nicht erfassen können, was der Mord an Silvio bedeutet, für jeden einzelnen, für die antifaschistische Arbeit oder den Alltag im Kiez. In den besetzten Häusern herrscht Verunsicherung. „Das schlimme ist, daß nun vielleicht viele bei rechter Gewalt erst recht wegschauen, weil sie befürchten müssen, abgestochen zu werden“, meinte eine Besetzerin, um im selben Augenblick kopfschüttelnd zu widerrufen: „Eigentlich müssen jetzt viel mehr Menschen dem Faschismus im Alltag entgegentreten.“

Unterdessen stehen bereits neue Konflikte an. In der Lichtenberger Rudolf-Seiffert-Straße wurde unlängst auf ein noch nicht bezogenes Flüchtlingswohnheim ein Brandanschlag verübt. Die Polizei war erst nach einer Stunde am Tatort. Auf einer Bürgerversammlung hatten AnwohnerInnen massiv gegen das Heim Front gemacht. Man könne im Falle des Einzugs der Flüchtlinge nicht garantieren, so einer der Anwohner, ob nicht die eigenen Kinder sofort losgingen, um etwas dagegen zu unternehmen. In der unmittelbaren Umgebung des Heims befindet sich der Judith-Auer-Club, ein stadtbekannter Treffpunkt auch organisierter Neonazis. Von der Lichtenberger Nazi-Szene trennt die Friedrichshainer Hausbesetzer lediglich das Areal eines stillgelegten Schlachthofs. Die Angst ist ein Stück näher gerückt in Friedrichshain. Uwe Rada

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