Feuer im Spießernest

■ James Ensors multipel verrückte Radierungen in der Kunsthalle

„Leidet mit uns, leidet viel, leidet immer, leidet mit uns ... und ihr werdet größere Künstler sein.“ Also sprach der flandrische Erfinder der Wilden Malerei, James Ensor, und bastelte an seiner Legende. Ein großes Künstlerschicksal! 1860 wurde er in Ostende geboren als Kind eines Säufers und einer Krimskramsladnerin, loderte wie ein Feuer in seinem Spießernest, wanderte innerlich aus, so weit es ging, galt als mindestens suspekt, sicher übergeschnappt, hatte sich mit 30 verausgabt und arbeitete den Rest seines langen Lebens an seinem Ruhm. Was gelang: Sein kleines Heimatland adelte ihn und setzte ihm zu Lebzeiten ein Denkmal.

Wild: vordergründig ist dies das falsche Reizwort, um in die Ausstellung in der Kunsthalle zu locken — winzige Radierungen pflastern die Wände, Gekritzeltes, Obsessives, gequältes Zeug von der Art, wie unsere Schulhefte nach der sechsten Stunde aussahen. Vollstes Verständnis für die Spießer aus Flandern! Man muß sich zwingen hinzusehen.

Es lohnt sich. Die Kunsthalle präsentiert einen multipel Ver

„Unten Pest, oben Pest, Pest überall“

rückten, hochgradig Besessenen, das missing link zwischen der Nadelarbeit des 18. Jahrhunderts und dem Surrealismus. Die Radierungen entstanden zwischen 1886 und 1904 und sind überwiegend Haßblätter. Spottblätter. Aggressive Abrechnungen mit einer bürgerlichen Klemmkultur, deren ordinäre Kehrseite nur allzu offen daliegt. „Der Pisser“ mit Frack und Zylinder. Geld, Krone, Uniform und Mitra scheißen aufs Volk („Doktrinäre Speisung“). Ärzte stolpern über heraushängendes Gedärm („Die schlechten Ärzte“).

Um seine Ängste zu bannen, bedient sich Ensor bei den stärksten Motiven: In der Tradition der Pestbilder seit Dürer ritzt er den Würgeengel, um später den bürgerlichen Diskurs selbst als Pest zu denunzieren („Unten Pest, oben Pest, Pest überall“). Sich selbst stellt er gern als Skelett dar. Eine wimmelnde Orgie aus Kopulierenden, Scheißenden, Kotzenden und Schwitzenden ist die Badeszene am Ostender Strand. Ein Inferno. Seine letzten Künstlerfreunde von der Gruppe „Les XX“ vergraulte der verrufene Ensor, als er begann, sich mit der Passion Christi zu identifizieren („Der Einzug Christi in Brüssel“).

Seine Bildsprache ist wild, sein Strich ist unglaublich akribisch und verliert sich gern im Detail. Seine Bilder sind Findebilder und Zumutungen, eine Kunst, die uns anspricht, weil wir selbst Wilde sind. Bus

James Ensor, Radierungen - bis zum 3. Januar. Der Katalog kostet 18 Mark.