"Berlin - Arbeit vieler Völker"

■ Der Bildungsverein "Arbeit und Leben" lud Asylsuchende zur Busrundfahrt durch die Vielvölkerstadt Berlin ein / Russische Kirchen und böhmische Dörfer

Berlin. „Hier ist bester Platz“, winkt vorne im Bus freundlich und einladend eine Asylsuchende aus Bulgarien. Sie gehört zu jenen rund 30 Flüchtlingen, die von „Arbeit und Leben e.V.“, der gemeinschaftlichen Bildungseinrichtung von DGB und Volkshochschule, zu einer Stadtrundfahrt zum Thema „Berlin – die Vielnationenstadt“ eingeladen wurden. Angesichts des Fremdenhasses, der nun schon wieder Menschen das Leben gekostet habe, sagt Ricarda Horn von „Arbeit und Leben“, hätten sie ein Zeichen setzen und deutlich machen wollen: „Berlin ist die Arbeit vieler Völker.“

Schließlich hat die Stadt immer wieder große Flüchtlings- und Immigrantenströme aufgenommen und zumeist erfolgreich integriert. Erstes Beispiel, zu sehen an wenigen historischen Überresten im Siedlungsgebiet zwischen Charlottenburg und Wilmersdorf: Hier ließen sich rund 300.000 Russen nieder, die nach dem Sieg der Sowjets im Jahre 1917 ihr Land verlassen hatten. „Die Russen hatten einen gewaltigen Anteil an den goldenen Zwanzigern“, erzählt der Historiker Frank Barich von der „Geschichtswerkstatt“ vor dem Mikrophon. Unter anderem entstanden „sechs russische Banken, drei Tageszeitungen und 87 Verlage“. Doch abseits der russisch-orthodoxen Kirche am Hohenzollerndamm, die der Bus feierlich umkreist, sind die Spuren spärlich geworden.

Später kamen die Russen bekanntlich noch einmal: als Sieger über die Nazis und als Besatzungsmacht. Für die Flüchtlinge im Bus ist die Fahrt auch ein Stück praktischer Geschichtsunterricht über ein Land, von dem sie nicht allzuviel wissen. „Rosinenbomber?“ fragt die Bulgarin verständnislos, als Kurt Pagenstecher, ebenfalls Historiker bei der „Geschichtswerkstatt“, beim Passieren dieser alten Maschinen auf dem Flughafen Tempelhof die Geschichte von der Berlin-Blockade erzählt. Aber dann hellt sich ihr Gesicht auf: „Ahhh – Bomben mit Essen“.

Das zweite Beispiel liegt im ehemaligen Böhmisch-Rixdorf und heutigen Neukölln: Dort ließen sich im 18. Jahrhundert die protestantischen Glaubensflüchtlinge aus Böhmen nieder. In der Kirchgasse, die bis 1909 noch „Mala Ulicka“ – Enge Gasse – hieß, versammeln sich die Asylsuchenden unter einem alten Denkmal, und der preußische König Friedrich Wilhelm I. breitet schützend seine Arme über ihnen aus. Aber der Schein trügt: Die ersten „Böhmischen Brüder“, die ab 1732 einwanderten, erhielten trotz ihrer großen Armut keinerlei staatliche Unterstützung. „Kein Essen? Hunger?“ fragt die Asylsuchende aus Bulgarien mit besorgtem Gesicht. Erst später, als der Soldatenkönig ihren Fleiß entdeckt hatte, genossen die Böhmen seine Protektion. „Bleiberecht nicht nur für Böhmen“, fordert deshalb eine Parole von heute hinterm Denkmal.

Drittes Beispiel sind die Arbeitsimmigranten der sechziger Jahre, die Kreuzberg zur drittgrößten türkischen Stadt nach Ankara und Istanbul machten. Damals, berichten die beiden Historiker, „gab es in ganz Berlin keine Oliven zu kaufen.“ Dem wurde schnell nachgeholfen, und heute sind die zweisprachigen Ladenschilder in der Oranienstraße zur Regel geworden. Auch der Wochenmarkt am Kreuzberger Maybachufer habe den türkischen Gemüseverkäufern sein Fortbestehen zu verdanken. Vor 150 Jahren entstanden, wäre er in den Sechzigern beinahe eingegangen, als das Einkaufen in den neuen Supermärkten zur Mode wurde.

Viertes Beispiel: die jüdische Bevölkerung, die fast von Beginn an in Berlin lebte, im Mittelalter aber von allen Handwerkszünften ausgeschlossen und somit zum Handel gezwungen wurde, erst 1812 ihre rechtliche Gleichstellung erhielt und ab 1923 neue Pogrome in ihrem Viertel in der Spandauer Vorstadt erleben mußte. Die Rumänen, Afghanen, Libanesen, Angolaner – darunter manche, die sich wegen der aktuellen Pogrome heute zum ersten Mal in den Osten getraut haben – stehen vor einem kleinen Mahnmal. Es erinnert daran, wie die Nazis 1942 das frühere jüdische Altenheim in der Großen Hamburger Straße zu einem Sammellager für die KZs umwandelten. Wie viele seien abtransportiert worden?, fragt ein älterer Palästinenser nach. 55.000? Sein Gesicht verrät keine Regung, aber ein arabisches Mädchen kichert. Das hier, der Holocaust, sei der Anfang auch ihres Leidens gewesen, versuchen die Historiker zu vermitteln.

Die Fahrt zurück führt am Nicolaiviertel vorbei. An seinem Rand, am Spreeufer, steht der mit goldenen Balkonen geschmückte Palais des Veitel Ephraim, des „Hofjuden“ und Finanziers von Friedrich dem Großen. „Ist Gold richtig?“ fragt die Bulgarin. Nein, es handelt sich um eine billige DDR-Imitation. Aber die Frage ist goldrichtig: Immer wieder haben Fremde und ihre Kulturen die Stadt bereichert. Und immer wieder dafür teuer bezahlt. Ute Scheub