Windabgeworfenes Licht

■ Zu einer neuen Gedichtauswahl von Dylan Thomas

Seit geraumer Zeit ist eine Ausgabe der Gedichte von Dylan Thomas in Deutschland ein Desiderat, genau gesagt: seit die Auswahl, die Erich Fried in seiner Übersetzung 1967 im Hanser Verlag vorlegte, vergriffen ist. Man hat sich oft gefragt, warum dieser Verlag eines seiner bedeutendsten Gedichtbücher dem Publikum nicht erneut zugänglich machte. Doch nun scheinen diese Fragen endlich überholt durch die Ankündigung einer fünfbändigen Werkausgabe, von der zunächst der dritte Band mit Erzählungen und in diesem Jahr der erste Band der gesammelten Gedichte erschienen sind. Ein weiterer Band mit Gedichten soll folgen. Um es vorweg zu sagen: Man wird aus der Ausgabe nicht recht schlau. Sie bietet, chronologisch nach Jahren geordnet, etwa 130 Gedichte — ein riesiger ungestalter Gedichte-Kuchen. Da der Anmerkungsapparat, der übrigens nicht jedes Gedicht aufführt, über die Publikationsgeschichte nichts verrät, tappt man darüber im dunkeln, welche Gedichte wann in einem Jahr geschrieben oder veröffentlicht wurden, ob also die Chronologie auch innerhalb eines Jahres eingehalten bleibt. Über die Zugehörigkeit zu Ausgaben, englischen oder deutschen, erfährt der Leser nichts. Dafür werden zu einzelnen Gedichten Briefe der Übersetzer zitiert, die sich nobel selbst auf die Schulter klopfen. Zum Lob der Ausgabe muß man allerdings vermerken, daß alle Gedichte zweisprachig abgedruckt sind.

Wie schon in dem Erzählungsband legt der Herausgeber Klaus Martens großes Gewicht auf das Jugendwerk des Dichters. Ungefähr die Hälfte der Gedichte stammt von dem 14- bis 19jährigen (1928 bis 1933) Thomas, davon wiederum gut zwanzig noch aus der Schulzeit beziehungsweise aus der Schülerzeitung. Dies müßte nicht verwundern, wenn nicht zugleich andere Gedichte aus diesem Zeitraum, mit denen Thomas Preise im Londoner Sunday Referee gewann, außer acht gelassen würden, darunter „The Force that through the Green Fuse Drives the Flower“ („Die Kraft, die durch die grüne Zündschnur treibt die Blüte“), das Erich Fried noch übersetzt hatte.

Und hier ist ein entscheidender Schwachpunkt dieser Auswahl berührt. Bereits ihr Titel „Windabgeworfenes Licht“ enthält eine programmatische Spitze gegen den Thomas-Übersetzer Fried, mit dessen Namen das Werk des walisischen Dichters in Deutschland fest verbunden ist. Nicht nur hat der Herausgeber einige der von Fried vordem ausgewählten Gedichte nicht aufgenommen, nicht nur hat er viele Übersetzungen Frieds durch neue ersetzt – mit dem Buchtitel verweist er auf einen besonderen Umstand. Der Titel ist dem Gedicht „Fern Hill“ entnommen, vielleicht dem berühmtesten von Dylan Thomas. Auch Erich Fried hat es übertragen, und diese Übertragung gehört zu seinen größten dichterischen Leistungen, im Rang vergleichbar derjenigen von „Cemetiere-Marin“ durch Rainer Maria Rilke und der von „Waste Land“ durch Ernst Robert Curtius. Ein ungewöhnlicher Glücksfall also. Gleichwohl taucht Frieds Übersetzung in diesem Buch nicht auf. Vielmehr hat der Herausgeber eine andere Version vorgezogen: seine eigene.

Schon ein kurzer Zeilenvergleich der beiden deutschen Fassungen zeigt die Inferiorität der neuen Fassung.

Das Gedicht beginnt mit den Zeilen:

Now as I was young and easy under the apple boughs

About the lilting house and happy as the grass was green

The night above the dingle starry,

Time let me hail and climb

Golden in the heydays of his eyes...

Version Fried:

Als ich noch jung war und leicht unter den Apfelzweigen

Rund um das trällernde Haus, und so glücklich war wie das Gras grün

Und die Nacht überm Talgrund voll Sternen,

Ließ Schwager Zeit mich Holla rufen und klettern

Golden in seiner Augen Erntezeit...

Version Martens:

Als ich jung war und leicht unter den Apfelzweigen

Um das schwingende Haus und fröhlich grün wie das Gras,

Sternennacht über dem dunklen Grund,

Ließ rufend aufgehen mich die Zeit

Golden in brausenden Tagen ihrer Augen...

Über die Qualität von Nachdichtungen läßt sich streiten, nicht jedoch darüber, was genuin dichterisch ist und was, im Vergleich dazu, Humbug. In einem verquasten Nachwort läßt Martens sich über die Probleme des Übersetzens aus: „Die Übersetzung ist ein zielsprachiger Text ihrer Zeit. Unter vielen möglichen Übersetzungen des Textes [...] ist sie als neueste jeweils die jüngste.“ Ach was! Im Satz vorher stellt er fest: „Aber es kann nicht der Anspruch an den Übersetzer erfüllt werden: ,Jene reine Sprache, die in fremde gebannt ist, in der eigenen zu erlösen‘ (W. Benjamin).“ Ob ein Übersetzer diesen Anspruch erfüllen kann, darauf hat Erich Fried allerdings die Probe gemacht. Allein schon die Unterschlagung seiner Übersetzung von „Fern Hill“ spricht dieser Ausgabe – welch anderes Verdienst sie immer haben mag – ein wenig günstiges Urteil. Andreas Nohl

Dylan Thomas: „Windabgeworfenes Licht“. Herausgegeben von Klaus Martens. Hanser Verlag, 58DM.