■ Gedanken zur deutschen Gesellschaft
: Demokratie als Plebsokratie

Es scheint, wieder einmal, als stünde die öffentliche Meinung auf dem Spiel. Also kommt, ihr Rhetoren, strömt herbei, ihr Eristen, äußert euch, ihr Verbalkomödianten. Was sind die Hauptworte des großen Aufruhrs (und geht es überhaupt noch um Worte)? Schweigen, Gewalt, Fremdenhaß, Grundgesetz, Völkerwanderung, Demagogie. Welcher Weg steht noch offen, welche Ausgänge sind schon versperrt? Hilft Analyse noch, geht es um Unterscheidung innerhalb einer erstaunlichen Dynamik, in der Gruppen der Vehemenz (der traditionelle Mob), Gruppen der machtgeschützten Strategie (die Politiker) und Gruppen der Reflexion (die sogenannten Intellektuellen) ihre jeweils eigene Rolle spielen. Was ist die angemessenste Form: der Rechtsstreit, die psychosoziologische Studie, der Essay, inspiriert von Verhaltensforschung, der kathartische Effekt auf dem Theater?

Mitleid ist nicht mehr mehrheitsfähig

Was mir im Augenblick dazu einfällt, ist wenig, es macht wirklich nichts her. Nur soviel: Soziologie und Protest ergeben ein immer schlechteres Handlungspaar. Politische Analyse gegen den Drall nach rechts wird allein nicht mehr helfen. Mitleid ist nicht mehr mehrheitsfähig. Längst ist der behavioristische Hintergrund solcher Ausbrüche dominierend geworden. Es kostet mich nichts, das blödsinnige Geschrei von Rostock und Hoyerswerda blödsinnig zu nennen. Es stellt mich nicht besser, wenn ich die jugendlichen Habenichtse (ein Lieblingswort Adolf Hitlers) manipuliert und das Fünfte Rad am Wagen der gewalttätigen Demokratie nenne. Vielleicht bringt ein Rockkonzert von „Sonic Youth“ noch Erlösung. Vielleicht muß ein neuer Kult her, der Worte, Musik, Geistesgegenwart und Zivilcourage erotisch verbindet.

Ich gebe zu, das ist alles Gestammel. Und wenn einer spürt, daß ein rasierter Nacken, ein blau unterlaufenes Augenpaar oder ein tätowierter Kahlkopf fremd und schön sich wie eine Maori-Maske gegen bürokratische Architekturen abhebt, dann ist er verloren und will es sein. Was heißt das?

Da ich überall nur strategische Linien und eifrigen Bunkerbau sehe, möchte ich gern nach draußen gelangen, dorthin, wo das reale Gemetzel beginnt und die Opfer in ihrer öffentlichen Isolationshaft die Moral der Privilegierten verewigen helfen. Ein Beitrag zu den brutalen Ereignissen gegen die Nomaden aus Afrika, Vietnam, Rumänien, der sich abscheuvoll gibt und geschäftig ins Funkhaus zurückkehrt, nährt allenfalls meinen Sarkasmus. Eine Anekdote von einer Bürgerversammlung im wohlhabenden Hamburg-Blankenese, wo verängstigter Mittelstand sich juristisch vor Überfremdung schützt, reizt mich immerhin zu bösem Gelächter.

Wer ist böser? Der Schläger oder der Zahnarzt

Kann es sein, daß es längst um den Modus der Ausgrenzung geht (parlamentarische Mehrheit statt stumpfem Faust-Unrecht) und lange schon nicht mehr um Urchristentum oder einfachste Solidarität? Wer ist böswilliger, der halbwüchsige Schläger und Bombenbastler (Eltern arbeitslos, Lehre stinklangweilig, eigene Jugend zwischen Wehrsport und FDJ-Appellen vergammelt) oder der distinguierte Zahnarzt/Steuerbeamte/Kleinunternehmer, der aus Angst um den eigenen Garten, das ungestörte Spiel seiner Kinder, die Attraktivität seiner Wohngegend wie ein Revier gegen heranströmende Sinti&Roma verteidigt? Selbstverständlich wird letzterer das Rassistenwort Zigeuner listig vermeiden. Und natürlich kommt ersterer immer schon mit seinem aggressiven Armseligkeitsprotest zu spät in einer Gesellschaft, die auch für ihn ganz andere Angebote ziviler Ressentiments bereithält. (Weh uns, wenn aus der Demokratie schlechten Gewissens eine Plebsokratie der guten Vorsätze wird.) Zu den verdeckten Spielzügen der ersten fällt mir nur übliche Gesellschaftskritik ein, und die bleibt einstweilen folgenlos. Zum SA-Stil der Allerjüngsten (und ihrer Beifall klatschenden Erzeuger) ein paar Bemerkungen.

Nächtliche Überfälle auf staatseigene Wohncontainer, in denen Einwanderer wie Zollgut für Monate versiegelt und bis zur Frachtprüfung eingepfercht leben, Straßenschlachten gegen rat- und führungslose Polizeieinheiten, Brandanschläge und fröhliche Hetzparolen: Dazu fällt mir schon deshalb mehr ein, weil ich die Herkunft solcher Leibesübungen aus den stillgelegten Zeiten des ostdeutschen Sozialismus, ihre volkssporthafte Anziehungskraft als Effekt einer Freisetzung begreife, die im geeinten Deutschland bald den Rang von Karate-Kursen und Selbsterfahrungstherapien einnimmt.

Es ist wie beim bungy-jump, dem Mutsprung am Gummiseil, dessen modische Ausbreitung in den Großstädten nicht zufällig gerade mit dem Ende der großen Sozialutopien zusammenfällt. Im freien Fall durch die Konkurrenzgesellschaft lädt sich der jugendliche Körper mit den Gewaltenergien seiner Umgebung auf. Gewalt wird als tiefgreifendes körperliches Erlebnis empfunden, als Befreiung von Zukunftsängsten und schleichendem Alltagsdruck. Die entsprechenden Verhaltensmuster sind immer dieselben.

Parlament und Straße greifen ineinander

Wirklich befreiend ist Gewalt offenbar immer nur, wenn sie das Terrain der Zweikämpfe und altmodisch ritterlichen Wettbewerbe verläßt und sich kollektiv gegen Schwächere richtet. Erst als Kesseltreiben und Verwüstung im Hühnerstall verschafft sie den Gewaltbereiten den wirklich kathartischen Durchbruch, in dem alle Minderwertigkeitsgefühle mit einemmal explodieren. Wie lange das noch so weitergeht, wird sich spätestens nach der letzten diesbezüglichen Entscheidung des Bundestages zeigen. Insofern greifen Straße und Parlament ineinander, und schon dies müßte dem Unvoreingenommenen die Lage klar vor Augen führen. In der Entscheidung Demokratie oder Plebsokratie wird es leider in Zukunft zu neuen Legierungen kommen. Die Opfer, ich kenne kein einziges von ihnen persönlich, können auf mein hilfloses Zähneknirschen zählen. Ihre verständlichen Listen, von Demagogen Asylbetrug genannt, kommen aus einer von Armut getriebenen Mobilität, vor der der Westen jetzt demokratisch erschrickt. Migrationes barbarorum nannten die ebenso fremdenfürchtigen, ebenso eroberungslüsternen Römer das. Gegen die unsichtbaren Festungswerke der reichen Zentren werden die Ausgegrenzten so lange anrennen, bis sich die Erste Welt assimilierend auflöst oder sich offen zum neuen Feindbild bekennt. Wenn im Regierungsviertel in Bonn die ersten Zeltlager für Asylbewerber errichtet werden, wird man sehen, woraus die plötzliche parteiübergreifende Einheit verschreckten Sozialkomforts sich formiert hat. Durs Grünbein

Der 1962 geborene Schriftsteller lebt in Berlin. Letzte Veröffentlichung: „Schädelbasislektion“; der Text ist ein Vorabdruck aus dem Ende des Monats im Fischer Taschenbuchverlag erscheinenden Sammelband „Für eine zivile Republik – Ansichten über die bedrohte Demokratie in Deutschland“, hrsg. von Wilhelm von Sternburg.