Theatersprache gesucht

Improvisation und Uraufführung: Das „theater 89“ spielt „Der Sondeur“ von Jannis Ritsos  ■ Von Berthold Rünger

Improvisation, diese alte Form des Bühnenspiels, ist heute kaum noch zu sehen. Die Erfindung von Handlung, Gestik und Sprache aus dem Stegreif produziert in erster Linie innere Beziehung zum Publikum und weniger die hochstilisierten Ausdrücke, an die wir gewöhnt sind, die Theater aber auch kalt machen können und es um seine ursprüngliche unmittelbare Anregung der Empfindungen bringen.

Die 35 Stühle, die im „theater 89“ für einen der regelmäßigen Improvisationsabende bereitstehen, sind offenbar von einem erfahrenen Publikum besetzt. Die Vorfreude belebt alle. Nachdem Jürgen Kroetz (Klavier) und Steven Garling (Schlagzeug) bei einer gemäßigt dissonanten Musik sich gefunden haben, müssen Johannes Achtelick und Hajo Frank – Inspirator und Leiter des Theaters übrigens – dagegen antreten. Frank kriecht unter den Klavierdeckel, schreit gegen die Musik an, wird geboren. Nun ja, etwas einfach, wenn auch schön drastisch. Dann sieht man, wie es in einem Kinderleben mit Schlägen und strengen Eltern zugehen kann. Damit ist die Basis für verschiedene Verzweigungen geschaffen. Natürlich waren die Väter die jähzornigen Spießer, wie sie mit einem Brett vor dem Kopf die sozialistischen Lieder absangen, „Brüder zur Sonne, zur Freiheit...“ Auf den Stühlen bleibt das Gelächter weich, wehmütig. Da greift Frank zu und beschreibt einen engen Kreis um sich: Wie war es denn, erinnert ihr euch ans Eingeschlossensein? Nein, wir verschließen uns. Frank gibt die Idee auf und sucht weiter. Nun ist er der Großartige, winkt euphorisch, hastet rückwärts, bis er hinten gegen eine Blechwand schlägt, den „Eisernen Vorhang“ für die neue Inszenierung „Der Sondeur“. Schauspieler lernen ja das Fallen, er hat sich nichts getan. Daher alles noch einmal, heftiger, und noch einmal, noch heftiger. Da fällt die Wand mit Gewitterdonner um. Das gefällt, das geht nicht zu nah und berührt doch.

Vergebens versucht Frank bei den thüringischen Heimatliedern vom Klamauk wegzukommen und eine Naturempfindung hervorzubringen. Aber die Musiker und sein Mitspieler Johannes Achtelick bleiben fest auf der breiten Straße des Spaßes. Schade um den Gegensatz. Improvisation ängstigt, läßt nach Sicherheiten greifen. Hinterher fühlt man sich übrigens locker wie nach der Sauna. Etwas von der schwierigen inneren Lockerung und Lust auf riskierten Ausdruck für das Stegreifspiel überträgt sich aufs Publikum.

Mit inszenierter, auf höherer Stufe kontrollierter Improvisation kann eine rücksichtslose, ja brutale Dichte gewonnen werden, wie bei den Proben für das Stück „Der Sondeur“ des siebenundsechzigjährigen griechischen Autors Jannis Ritsos aus dem Jahre 1973. Die deutsche Uraufführung des Textes – und zugleich die erste Aufführung dieses Autors in Deutschland – findet heute abend statt. Die letzten Probendurchläufe lassen eine Herausforderung für die Zuschauer erwarten. Einige werden sich niedergewalzt fühlen.

Jannis Ritsos ist in der Tradition der klassischen Moderne zu sehen. Ein assoziatives Gemenge von Dingen beschreibt eine Großstadtszenerie als Ort. Zwar gibt es Personen wie „Die rothaarige Frau“, „Das Menschlein“ oder „Die Schöne“, aber keinen Dialog und keine Handlung mehr. Die vage typisierten Figuren monologisieren in einer pathologischen Gedankenlyrik, unter der, bei nicht ganz fester Themenzuordnung zu den Figuren, Sinn schimmert. So sagt „Die rothaarige Frau“: „Wie schnell wachsen die Bärte der Männer, neunmal in der Woche, zweimal am Sonntag, in zerquälten Nächten, wenn sie in die Kissen beißen, mit steifen Knien und trockenem Speichel.“

Im unvollständigen Satz, im Gedankensplitter ist auf das Rasieren in der Arbeitsweise des Bewußtseins angespielt, das nur mit sich selbst kommuniziert und sich mit Bedeutungsfetzen begnügt. In derselben Weise nimmt sich die Figur einer unbestimmten möglichen Situation an, dem Gefängnis beispielsweise. Hier sind die Männer, allein (zerquälte Nächte), in Angst (trockener Speichel). Entstehungszeit des Stückes sind die Junta-Jahre. Genauso aber könnte es eine alltägliche Bedrängnis sein.

Denn die eigentliche Katastrophe ist die zusammengebrochene Kommunikation zwischen den Menschen. Der Form nach ist das Stück aus dem Chor der griechischen Tragödie abgeleitet, der nicht handelt, nur reflektiert und kommentiert. Die Figuren treten chorisch auf, sind aber auf moderne Weise individualisiert und vereinzelt.

Die Regie von Michael Bischoff verwendet etwa ein Fünftel des Textes. Im improvisierenden Erarbeiten entstand daraus ein 90minütiges Spiel in fünf Szenen mit abstrakten Räumen zunehmender Tiefe. Äußerlich sind sie reizvoll, ansprechend, doch nicht ohne Brüche. So strahlen die Stahlwände eine bedrückende Kälte aus, die Kostüme wirken poetisch, sind jedoch mit Tarnfarbe übermalt, die abplatzt wie von Mumien, die in Bewegung geraten.

Mumienhaft sind auch die extrem verlangsamten Bewegungen, die zunächst an Robert Wilsons Theatersprache erinnern, ohne jedoch deren lichte Schönheit zu erreichen. Denn der Ausgangspunkt ist ein ganz anderer, trainierte Improvisationen um Sätze und Motive, die für jede Aufführung neu bestimmt wird.

Dem Vernehmen nach mußte eine Aggressivität unter den Spielenden bewältigt werden, die sich aufeinander zu einer Szene beziehen müssen, jedoch nicht schauspielern und miteinander kommunizieren dürfen. Die gewollte Überforderung führte zu scharfen Bosheiten, die nun im Spiel zum Ausdruck kommen; sichtbar wird etwa das Innenleben einer nur zufälligen, zusammengezwungenen Menschenansammlung, die es auseinander treibt.

Das alles in Bildern von einer Schönheit, die schrecklich belastet und sehnsüchtig nach – ja sagen wir es einfach so – Liebe macht. Wie die abweisenden bunten Glasscherben, die auf einer Mauer zementiert sind, wirken die Figuren. Doch möchte man zu ihnen, denn diese Glasscherben sind wir selbst.

Premiere heute abend im „theater 89“, Wilhelm-Pieck-Straße 89