Der Chamäleon-Effekt

■ Eine echte Begegnung zwischen zwei Partnern unterschiedlicher Kulturen wird durch die Unmündigkeit des Fremden in der anderen Kultur erschwert

Die intensive Begegnung unterschiedlicher Kulturen innerhalb einer Ehebeziehung kann äußerst bereichernd sein, vorausgesetzt, es findet tatsächlich eine Begegnung statt, und beide Partner sind zur gegenseitigen Akzeptanz bereit. Doch diese Voraussetzung ist schon bei Partnern gleicher ethnischer Herkunft schwer genug, wesentlich schwerer jedoch bei Menschen, die aus völlig unterschiedlichen Kulturräumen stammen. Nehmen wir zum Beispiel die Beziehung zwischen einem Mann, der aus dem Orient stammt, und einer Frau aus Westeuropa. Wenn orientalische Männer nach Europa kommen, gleichgültig zu welchem Zweck, sind sie gewöhnlich zunächst begeistert von den technischen Errungenschaften und vor allem dem Komfort einer Industriegesellschaft, von der Ordnung und Disziplin und nicht zuletzt von den blonden, blauäugigen Frauen, die frei mit den Männern Umgang pflegen.

Sie beherrschen die Sprache nicht, die Sitten und Gebräuche sind ihnen unbekannt, sie haben Aufenthaltsprobleme und Schwierigkeiten mit den Behörden, sie stammen aus Gesellschaften, in denen politische und soziale, auch sexuelle Unterdrückung herrscht. Sie fühlen sich in der neuen Welt unbeholfen, sind auf Unterstützung angewiesen, sie sind einsam, sehnen sich nach Geborgenheit. Schon die erste Zuneigung, die ihnen von einer Frau entgegengebracht wird, wird mit großer emotionaler Begeisterung beanwortet. Der Heiratsantrag ist schnell gestellt; willigt die Frau ein, wird bald eine Ehe gegründet, in der die Partner kaum etwas voneinander wissen.

Diese Fremdheit setzt sich fort, sie wird allmählich verdeckt damit, daß er sich ihr anpaßt, denn beide leben in einer Gesellschaft, die ihr vertraut, ihm aber unzureichend bekannt ist. Dieser Umstand verleiht ihr Stärke, eine Stärke, die er täglich spürt und der er sich gezwungenermaßen unterwirft. Sie begleitet ihn bei seinen Behördengängen, löst seine Wohnungsprobleme, bringt ihm die Sprache richtig bei, organisiert den Alltag. Sie kennt sich einfach besser aus.

Diese Abhängigkeit, dieses ungleiche Verhältnis setzt sich auch dann fort, wenn der Ehemann sich in der Fremde etabliert und mit den Umgangsformen vertraut gemacht hat. Sogar wenn er einen Beruf ergreift und gar darin Karriere macht. Genau wie für manche Eltern ihre Kinder immer Kinder bleiben, auch wenn sie erwachsen sind, genauso bleiben für solche Frauen ihre Partner stets der unbeholfene Ausländer, dem sie einmal gnädigst ihre Zuneigung entgegengebracht haben, weil er so nett und exotisch war. Immer noch weisen sie ihn auf sprachliche Fehler hin, obwohl er die fremde Sprache inzwischen ganz gut beherrscht. Wenn die Frauen selbst ein paar Brocken der fremden Sprache gelernt haben, dann empfindet ihr Partner das als großes Geschenk.

In solchen Ehen bleiben die Männer unmündig. Dennoch, wenn sie sich bei Freunden über ihre Frauen äußern, hört man so einen Satz wie: „Meine Frau ist keine richtige Deutsche oder Französin, sie ist wie unsere orientalischen Frauen.“ Umgekehrt meinen die Frauen, ihre Männer haben längst das Orientalische abgelegt und seien inzwischen europäisiert. Man spürt, wie sehr auf beiden Seiten die Bedürfnisse und Sehnsüchte unterdrückt werden. Und das Ganze wird dann eine bikulturelle Ehe genannt. Sollten die Männer einmal den Versuch unternehmen, sich aus ihrer Unmündigkeit zu befreien, bricht die Ehe zusammen. Begibt sich der Mann in die Heimat, kehrt er zu seinen Ursprüngen zurück, wundert sich die Frau, die ihn begleitet, über die plötzliche Veränderung. Bei einem tatsächlichen fruchtbaren Austausch von Kulturen sind dergleichen Gefahren nicht zu befürchten. Sonia Seddighi, iranische Ärztin