Nachschlag

■ Volksbühne: „Die Pest“

Politische Zeichen will die Volksbühne allemal setzen, seit Frank Castorf die Intendanz übernommen hat. Sie wirbt mit schwarzen Zinken auf grauen Plakaten, mit einen Roten Salon und mit einem Spielplan, der die Jugend gewinnen will, jene Jugend der ehemaligen DDR, die vielleicht eine verlorene Generation ist. Nirgendwo irritiert der Versuch, ein ostdeutsches Selbstbewußtsein zu behaupten, so sehr wie hier, nirgendwo ist er so vollgestopft mit Symbolen. Ein wenig unerst, bloß als Geste gemeint, kam bisher dieses verspätete Revolutionstheater daher, nun aber, mit Jeremy Wellers „Pest“ wurde es ernst. Westlich geschult, glaubt der schottische Regisseur nicht mehr an die Politisierung der Kunst, er will die Realität selber auf die Bühne holen, um ihr dort die ihr eigentümliche Ästhetik zu entlocken. Er läßt Arbeits- und Obdachlose mit Profis zusammen Theater spielen, möchte, wie er selber sagt, „verschiedene Teile der Gesellschaft zusammenbringen“, um „die Unterschiede zu untersuchen“. Ein kapitalistischer Realist also, daher nur auf den ersten Blick überaus passend in Castorfs Theater, tatsächlich aber davon so weit entfernt wie nur möglich. Wellers Projekt – gesponsert vom Siemens-Konzern – gelang auf beängstigende Weise: der Burgfrieden am Rosa-Luxemburg-Platz war erheblich gestört. Auffällig mäßiger, nur noch höflich zu nennender Applaus beschloß die Premiere. Noch während der Probenarbeit hatte das Haus ein veritables Sit-in der Betroffenen zu erdulden. Der Protest beruft sich auf gute Gründe: Wellers Obdachlose mußten um jeden Pfennig und jedes Gramm Tabak betteln, schliefen in miserablen Unterkünften; so zumindest behauptet es eine Mitarbeiterin der Obdachlosen-Wärmestube „Seeling-Treff“ in einem Flugblatt. Es gibt keinen Grund, ihre Darstellung zu bezweifeln, denn Weller kam nicht als Sozialarbeiter, sondern als Regisseur nach Ostberlin, holte sein Material, wo er es fand – in eben jener Wärmestube – spielte mit ihm, hörte der Sprache dieser Menschen zu, studierte ihre Gestik und achtete offenbar darauf, daß die Originale nicht durch plötzlichen, wenn auch nur relativen Wohlstand verdarben. Man mag das zynisch finden, hätte unter Gesichtspunkten der Menschlichkeit recht damit, nur es ja just diese Menschlichkeit, die einer Gesellschaft fehlt, die Obdachlosigkeit als Normalität duldet. Jeremy Wellers „Pest“, lose an Albert Camus Vorlage orientiert, destruiert diesen bloß humanitären Standpunkt, läßt ihn auf dem Terrain der puren Ästhetik scheitern. Das ist schockierend, aber wie anders könnte Theater Wirkung entfalten? Das Spiel beginnt als Probe auf unbeleuchteter Bühne. Kaum ein Wort ist zu verstehen, Obdachlose und Schauspieler stehen herum, wissen nicht, was sie tun sollen. Der Regisseur, gespielt von einem Ensemblemitglied, spricht englisch. Ganz allmählich gleitet die Theaterprobe hinüber in das Stück von Albert Camus, das – bekanntlich – von einer Stadt unter Quarantäne handelt. Die Lage wird unausweichlich auch für das Publikum, das in steilen Rängen auf der Hinterbühne sitzt, vor sich nur die Spielfläche und den eisernen Vorhang, der den Ausweg in den Zuschauerraum verbaut. In diesem Gefängnis gibt es nichts zu betrachten, hier wird ausagiert, die künstliche Brechung des Stoffes wird zum Einbruch der Realität. Schauspieler und Obdachlose vermengen sich, werden verwechselbar und reagieren eben deswegen zunehmend aggressiv aufeinander. In manchen Höhepunkten scheint sich das Theaterspiel ganz aufzulösen, die Szene gleicht dann einem Heerlager von Sozialfällen, denen nur noch blanke Zyniker Auswege vorgaukeln könnten. Die Lehre schmerzt, Frank Castorf saß etwas blaß in der zweithintersten Reihe seines Erfolgstheaters. Niklaus Hablützel

Täglich bis 8. Dezember, Rosa-Luxemburg-Platz, 19.30 Uhr