Inszenierte Intimität

■ Notizen zur JazzFest-Halbzeit

Als „Kollektivimprovisationen am Rande des Abgrunds“ benennt der Gießener Jazzsoziologe und Musiker Ekkehard Jost seinen aktuellen Aufriß zu den „Tendenzen der Jazz-Szene am Anfang der neunziger Jahre“. Nichts Neues von dieser Front möchte man meinen.

Wird allein in 29 New Yorker Jazzclubs die Musik als Beilage zu einem Dinner gereicht, bestimmt der Medienrummel zunehmend das europäische Festivalleben. In New York ein musikalischer Kellner, in Europa der Star? Der Jazzmusiker als Werbeträger und Entertainer, medienwirksam und bedeutungslos auf dem Rand zur Belanglosigkeit gratwandernd? Dieser Abgrund drängt sich einem beim Betrachten des diesjährigen JazzFest-Plakats förmlich auf.

So symbolträchtig kam man schon lange nicht daher: mag es nun der Blick in den vaginalen Schlund sein, der den 1.000.000- DM-Festivaletat aufsog oder einfach nur ein dokumentiertes Mißverständnis. Ein lüsternes Damenbein zum Saxophon stilisiert, das Mundstück als hochhackiger Schuh, die Klappen bunt um den Strumpf gerankt. Das Fest-Thema „Cabaret-Jazz“ im öffentlich- rechtlichen Tingel-Tangel-Look. Das ist Kunst im Zeitalter der Medienkonkurrenz, auch ohne Strip genau unter die Gürtellinie der Mumien „in der ersten Reihe“ zu treffen. Denn die müssen wieder mal herhalten – für jedes nicht eingelöste Programmversprechen, für soviel Jazz und die berechtigte Frage, was denn eigentlich kein Jazz mehr sei und für sowenig Atmosphäre. Doch gerade die wird groß geschrieben, man habe zum Wesentlichen zurückgefunden.

Daß ausgerechnet der Hauptact – „Cabaret“ – kurzerhand im Museum stattfindet, hätte obskurer gar nicht kommen können. Dort also, wo der Jazz schon lange hingehört? Welche Atmosphäre hat denn eine Grabkammer, wenn nicht jene sehr intime zwischen Todeshauch und Mahnwache? Hierhin hat man etwa Jay Leonhart (So., 16 Uhr) und Ben Sidran (So., 18.30 Uhr) plaziert, die doch nun gerade Musik für jene zu machen beanspruchen, die sonst schon bei der Erwähnung des Wortes Jazz musikalische Bauchschmerzen bekommen. Selten gehörte Kleinode aus der New Yorker Schatztruhe zwar, aber wohin geworfen? Wenn Leonhart im New Yorker Blue Note den japanischen Jazztouristen seine gewitzten Songs zum alltäglichen Brunch serviert, mag sich der eine oder andere tatsächlich vor Lachen krümmen. Selbiges könnte einem hier förmlich im Halse stecken bleiben, so intim war man schon lange nicht. Heute noch im Musikinstrumentenmuseum: Michel Legrand (15.30/20.30 Uhr) und Dave Frishberg (18 Uhr).

Was blieb einem sonst vom Jazzfest außer Fetzen der Erinnerung an Genörgeltes und Präformiertes? – eben das Plakat und die Aufzeichnungen „für die erste Reihe“. Die „Fernsehkonzerte“ in der Philharmonie. Ebenda heute (19.30 Uhr) und morgen (20 Uhr) noch mit Altbekannten wie Lionel Hampton, Milt Jackson, Dave Friedman und und und — Motto: Vibraphon satt.

Aus 9.000 Bewerbungen wurden heuer 26 Gruppen zur Fortschreibung der Jazzgeschichte auserwählt. Im Stil musikalischer Heldenanekdoten werden nette Programmtextchen verfaßt. Man gibt sich festivalgerecht – beschaulich und gemächlich. Aber dieser Rahmen stimmt schon lange nicht mehr.

Wenn sich der zeitgenössischen Jazzszene der Abgrund zum sozialen Kollaps auftut, dann ist das „Wiedererwachen des Cabaret- Jazz“ auch ein Symptom dafür. „Cabaret-Jazz“ ist billig für die Veranstalter, fordert keine staatlichen Subventionen und zwingt den Musiker, der überleben will, in die Rolle eines Entertainers. Der Jazzmusiker im Underdogalltag – davon weiß auch Ben Sidran ein Lied zu singen: They did it to Charlie Parker, said he was playing junk. Und dies bedarf keiner Romantisierung, schon gar nicht von Chefsesseln der Berliner Festivaletage herab.

Wer nach dem vorabendlichen Museumsjazz dennoch Bedürfnis nach intimer Clubatmosphäre verspürt, der kann bei Art Porter im Quasimodo vorbeischauen (Sa./So., 22 Uhr). Der SaxFunker aus Little Rock, Arkansas, bläst im Mainstream, was das Zeug hält, sehr intim und lebensnah. Oder ins Podewil gehen (Sa./So., 22 Uhr), denn da gibt es das alljährliche „Gegenfestival“ zum Fest. (O- Ton: „In Berlin fehlen nur die Rapper. – Schade eigentlich.) Improvisiert und subkulturell etwas angegraut. Aber auch ein graues Haar zeugt zuallererst vom Leben. Christian Broecking