Länger leben heißt auch länger leiden

■ Aids: Medizinische Versorgung allein reicht nicht aus/ Wer sich isoliert, stirbt schneller/ Es fehlt an Prävention, ambulanter Pflege, Betreuung und sozialer Absicherung

Berlin. Die Patienten auf Station 30 B sind vor allem mager. Einige Gesichter sind von verdächtigen Flecken entstellt. Vorsichtig bewegen die Männer sich durch die blaßgelb gestrichenen Flure. Im Aufenthaltsraum läuft der Fernseher schon morgens.

Marius T. (Name von der Red. geändert) ist schon zum dritten Mal hier. Sein Aids-Test fiel vor drei Jahren fälschlicherweise negativ aus. „Die Impfungen für eine Indien-Reise haben mein ganzes Immunsystem ruiniert. Ich kam mit furchtbaren Durchfällen und nur noch 70 Helferzellen (normal sind 1.000, d. Red.) wieder.“ Einzig seine Freunde hätten ihn nach dem Schock aufgefangen. „Aber ich plane, damit zu leben.“ Auch nach der Entfernung eines Tumors setzte er sein Medizin-Studium fort und beteiligte sich an einer Aids- Sportgruppe. Im Oktober hing er wegen Fieber und Darmblutungen zwischen Leben und Tod: „Die haben mir hier das Leben gerettet.“

„Ohne die psychologische und die soziale Beratung wüßte ich nicht, was aus mir geworden wäre“, sagt Sebastian F. „Ich meditiere viel, dann verschwinden Angst, Verlassenheit und Ratlosigkeit.“ Mittlerweile habe er seine Krankheit als die größte Herausforderung an sein inneres Wachstum begriffen. „Ich habe noch so viel vor und so wenig Zeit – ich renne“, sagt er. Seine Dissertation in Archäologie über Textilmalereien aus Peru will er noch fertig schreiben, einen Lehrauftrag an der FU wahrnehmen, malen, nach Bolivien reisen.

Station 30 B und C sind die Aids-Stationen im Auguste-Viktoria-Krankenhaus in Schöneberg. 24 Patienten liegen auf jeder Station, acht werden in der Tagesklinik behandelt. „Das Schöneberger Modell beruht auf der engen Zusammenarbeit von Klinik, niedergelassenen Ärzten und Sozialstationen“, sagt Oberarzt Keikawus Arasteh. Erst akute Infektionen werden von den Hausärzten in das Krankenhaus überwiesen. Sobald es dem Patienten zumutbar ist, wird er entlassen. Zu Hause wird er von den Sozialstationen weiterbetreut oder in der Tagesklinik behandelt. „Das Krankenhaus dient als Bündel diagnostischer und therapeutischer Maßnahmen. Es darf keine langen Wege geben. Aids- Diagnose und -therapie haben keine Zeit. Wenn Sie für eine Diagnose eine Woche brauchen, ist der Patient vielleicht schon tot.“

Mit der medizinischen Versorgung ist es jedoch nicht getan. „Die Diagnose trifft Menschen in einer Phase, wo für sie beruflich und sozial alles beginnt“, so Arasteh. Der Beginn der Krankheit bedeute häufig den finanziellen und sozialen Kollaps. Der Abstieg bis hin zu völliger Verelendung sei selten abzuwenden. Der Verlust an Liebe, Freundschaft, Intimität und Sexualität sei eine persönliche Tragödie. Auf jeder Station arbeiten daher ein Psychologe und ein Sozialarbeiter, die die Patienten und ihre Angehörigen beraten.

Fast niemand stirbt mehr an der ersten Infektion

Aufgrund der medizinischen Fortschritte ist die Lebenserwartung HIV-erkrankter Menschen erheblich gestiegen. Die sogenannten opportunistischen Infektionen sind mittlerweile mit Erfolg therapierbar. Fast niemand stirbt mehr an der ersten, der „Aids-definierenden Infektion“. „Sie sind deshalb aber nicht gesünder“, sagt Christine Christmann vom Paritätischen Wohlfahrtsverband. Es folgen weitere, oft gehäuft auftretende Infektionen, auch neurologische Krankheitsbilder. Offiziell sind im Westteil der Stadt etwa 9.000 Menschen HIV-positiv, 1.868 sind erkrankt und 874 gestorben. Im Ostteil sind 146 HIV-Infizierte registriert, 31 Kranke und 15 Tote. „Die Dunkelziffer liegt erheblich höher“, sagt Christmann. Irgendwann brauchen sie eine Betreuung rund um die Uhr. „Die ambulante Versorgung ist unser größtes Problem“, so Christmann. Die beiden Organisationen, die speziell Schwerstkrankenpflege für Aidskranke anbieten, HIV e.V. und Ad hoc, seien schon überlastet.

„Der Bedarf sowohl an intensiver medizinischer als auch an psychosozialer, fachpsychologischer und sozialarbeiterischer Beratung steigt ständig, während die finanziellen und damit auch personellen Ressourcen die gleichen bleiben“, klagt Bernd Vielhaber von HIV e.V. Allein für die Prävention in den Risikogruppen wie Junkies, Prostituierte und sozial Randständige seien 70 zusätzliche Stellen nötig. „Berlin braucht auch eine Schmerztherapieklinik, mehr kompetente Anbieter im Pflegebereich, Personal für die Beratungen und kostendeckende Sätze der Krankenkassen.“ HIV e.V. hat eine Konzeption für ein Hospiz entworfen, in dem es neben Beratung und ambulanter medizinischer Behandlung eine Pflegestation geben soll. Hier könnten Kranke versorgt werden, die nicht in steriler Krankenhausatmosphäre ihre letzten Monate verbringen wollen, die aber auch keine geeignete Wohnung haben. „Wir suchen immer noch nach einer Immobilie sowie nach potenten Finanziers für die Stiftung, die das Hospiz unterhalten soll.“

Um Wohnungen bemüht sich „zuhause im Kiez“ (ziK). „Eine eigene Wohnung ist ein grundstabilisierender Faktor“, sagt Christian Thomes von ziK. „In unseren Wohnungen leben heute noch Leute, die schon vor zwei Jahren totgesagt wurden.“ Obdachlosigkeit ist ein weit verbreitetes Problem unter HIV-Infizierten. zik hat bisher etwa 100 Wohnungen angemietet und weitervermittelt. Um Aidskranken die Unterbringung in Läusepensionen zu ersparen, plant ziK ein Übergangshaus, in dem Wohnen und Pflege bis zum Einzug in eine eigene Wohnung gewährleistet wird. Doch die öffentlichen Gelder fehlen auch hier.

„Wer sich isoliert, stirbt schneller“, sagt Michael Specht von der Berliner Aids-Hilfe. Außer Beratung, Betreuung und einem Tag- und-Nacht-Telefon vermittelt die Aids-Hilfe „buddies“, die als Freund und Kumpel bereit sind, einen Kranken möglicherweise bis zum Tod zu begleiten. Auch bietet sie Sportgruppen, Ferienreisen und Workshops an, etwa zu richtiger Ernährung oder Massage. „Wir wollen die wieder aus ihren vier Wänden holen, die sich nicht mehr auf die Straße trauen.“ Neben dem Café PositHIV in der Großgörschenstraße findet in den eigenen Räumen in der Meinekestraße jeden Montag das Regenbogenfrühstück statt. „Und unsere HIV-HIV-hurra-Feten“, so freut sich Specht, „sind immer gut besucht.“ Corinna Raupach