In Liebe gefallen

Sex als Public Relations: Madonnas „Erotica“  ■ Von Thomas Groß

In der Woche 6 nach Madonnas Hype klingt „Erotica“ immer noch nicht wie die Platte, die den geweckten Erwartungen standhält. Vielleicht ist die Enttäuschung beim ersten Hören einer milden Bereitschaft gewichen, auch diesen Wechsel zu akzeptieren; möglicherweise hat ein gewisser Melodie-Effekt zu zünden begonnen. Aber das Zwingende, der große Pop-Zauber, der einmal von Madonna-Stücken ausgegangen ist, bleibt aus. Ohne sich zu nennenswerten Höhepunkten aufzuschwingen, zischeln die Songs dahin, grundiert von einem durchgängigen, leicht glitzernden Dance-Beat.

Die Strategie ist durchsichtig: Nachdem Dance-Musik definitiv die Pop-Musik der Zukunft zu werden verspricht, setzt Madonna auf ein neues Disco-Wunder, als dessen Zentrum – wie in den spätsiebziger/frühachtziger Jahren – im Gesamtplan Manhattan vorgesehen ist. „Erotica“ ist in Zusammenarbeit mit Shep Pettibone entstanden, der schon in der Frühzeit des Ciccone-Ruhms für den einen oder anderen Remix zuständig war und die Rückkehr into the Groove neueren Standards entsprechend steuert: Trance-Atmosphäre statt Knüppelbeats, polymorphe Perversion statt genitaler Eindeutigkeit, Vorlust statt Befriedigung – trotz Stöhngeräuschen und Sex Talk. „I can't help falling in love, I fall deeper and deeper and deeper and deeper“, singt Madonna. Immer weiter fällt sie in Liebe, ohne jemals anzukommen.

Statt dessen kreuzen unvermutet die spanischen Gitarren aus „La Isla Bonita“ den freien Fall, grüßen kurz, bevor sie von einem Takt auf den anderen wieder weggemischt werden. „Erotica“ wirkt, als hätte Madonna sich selbst gesamplet, ohne auf die sorgfältige Verarbeitung der Einzelteile allzu großen Wert zu legen. Weit, weit im Hintergrund agiert die Stimme, ertrinkt fast in einer Musik, der ja oft Subjektlosigkeit und Anonymität nachgesagt worden ist. In „Did You Do It“ ist Madonna nicht einmal mehr als Stimme anwesend, nur noch als Logo – ein Gütesiegel, das versichert, auch in dieser Songchemie wäre auf irgendeine Weise Madonna drin.

Madonna wäre eben nicht die Femme fatale, als die sie sich selbst erfunden hat, würde sie nicht doch an einer sublimen Veredelungstaktik stricken. So weit die Leinen auch ausgeworfen werden in den endlosen Raum der Verweisungen und Zitate, am Ende sollen sie alle an ihren Ursprung zurückkehren – Ausdruck eines Willens zu Autorschaft und Kontrolle, in dem Madonna sich als Star und Heldin ihres Schicksals zu behaupten sucht. Der postkoitalen Traurigkeit von New York in den Zeiten von Aids, angefüllt mit allerlei Muskelspielen, Porno-Klischees und wild wuchernder Bildersexualität, wird mehr oder weniger gewaltsam ein Name aufgepfropft: Madonna, Herrin all dieser Assoziationen und immer noch the hardest working girl in business. Nicht nur macht sie allmorgendlich Bodybuilding, gebietet über ihre eigene Produktionsfirma; sie will auch absolut über die Entwicklung von Pop und Technik verfügen – angedeutet in zwei kunstvoll eingebauten Reverenzen an veraltete Medien: dem Rauschen einer Vinylplatte auf dem Opener „Erotica“ und dem Klappern einer (mechanischen) Schreibmaschine auf „Words“, einem Titel, der im übrigen ziemlich schamlos eine Idee des Ex-Talking-Heads-Ablegers Tom Tom Club ausschlachtet.

Der Autor als Produzent, schrieb Walter Benjamin in einem seiner bekanntesten Aufsätze, beliefere „den Apparat“ (heute würde er wohl sagen: die „Medien“) nicht nur, er verändere ihn auch „nach Maßgabe des Möglichen“. Was denkende Menschen in den Achtzigern für Madonna begeisterte, war eine Abwandlung dieses Subversions- und (All)Macht(s)-Traums, die Vorstellung, hier verstehe es jemand, schamlos die Mechanismen der Medien auszunutzen, ohne ihnen in letzter Instanz unterworfen zu sein. Dabei war es zweitrangig, ob Madonna als Tabuverletzerin offene Türen einrannte. Was sie tat, ihr permanenter Einsatz als Mutter Theresa der Libertinage, machte nicht Sinn, aber das war auch gar nicht erwünscht in einer Welt, in der die großen Gedanken billig zu haben waren. Insofern war sie die perfekte Verkörperung des Subversionsgedankens, gewissermaßen dessen Hohlform: eine Geheimagentin der letzten gerechten Dinge: Sex, Spaß und Selbstverliebtheit.

„Erotica“, die Platte zur jüngsten Provokation, treibt dieses Ding auf eine einsame Spitze, und wenn die Rechnung, trotz Riesenaufwand, konzertierter Aktion (Platte + Bildband + Release- Party, verbreitet über alle möglichen Kanäle) und künstlicher Verknappung des Produkts, ästhetisch nurmehr leidlich aufgeht, so liegt das nicht nur daran, daß das Imperium zurückschlägt, die männlich dominierte Medienwelt sich an einer Frau rächt, die ihnen zehn Jahre lang den Trend angegeben hat; es liegt auch an einer gewissen Krise von Berühmtheit als Kunstform an sich. Madonna hat sich eine ganze Dekade als öffentliche Person im Zentrum der Aufmerksamkeit gehalten, und eines der Mittel dazu war Sex; jetzt ist sie an einem Punkt angelangt, wo der Sex, den sie meint, sich endgültig in Public Relations aufzulösen beginnt.

Konsequent mag das sein – eine Spezialform der vielzitierten Ästhetik des Verschwindens, die sich gerade im totalen Zeigen verwirklicht –, besonders interessant ist es, after all, kaum. Wer braucht schon in den Neunzigern eine Provokateurin without a cause? Nicht einmal Andy Warhol, der schon eine kleine Ewigkeit tot ist.

Madonna: „Erotica“. (Maverick/ WEA).