Ungemütliche Gemeinschaft

Das polnische Erbe in Litauen  ■ Von Irena Maryniak

Der Zug von Riga nach Vilnius ruckelt durch eine Landschaft voller Birken, Fichten und sanfter Hügel, kleiner sumpfiger Seen, Holzhäuser und spitzer Kirchtürme. Vilnius ist zahmes Barock, und durch das Stadtzentrum fließt die Neris. Die Stadt liegt in einem flachen Tal, umgeben von grünen Hügeln. Sie weist bemerkenswert wenig Spuren des vergangenen Systems auf, wie man sie ansonsten überall in der früheren Sowjetunion antrifft. Die Luft ist relativ wenig verpestet, und die Industrie liegt einigermaßen weit entfernt vom Stadtkern, der peinlich sauber gehalten wird. Vieles ist hier schon restauriert worden, wenngleich man in den Seitenstraßen immer noch viele Gebäude vor sich hinbröckeln sieht.

Die 800 Kilometer zwischen Tallinn und Vilnius stellen ihren eigenen Nord-Süd-Konflikt dar. Trotz ihres Rufs als südliche Hitzköpfe des Baltikums haben die Litauer den Kompromiß zu einer hohen Kunst entwickelt. Als der Atheismus Staatsdoktrin war, übernahm der litauische Staat die Kirchen, richtete darin Museen ein und restaurierte sie nebenbei. Jetzt werden sie wieder als Kirchen benutzt. Viele Menschen hatten sich der Kommunistischen Partei angeschlossen, um für echte soziale und wirtschaftliche Verbesserungen zu arbeiten. Andere bestanden auf dem, was sie für ihre moralische Integrität hielten, und blieben gelähmt, unfähig, sich am gesellschaftlichen Geschehen zu beteiligen.

Vielleicht ist das litauische Parlament deshalb noch immer von den Barrikaden umgeben, die im Januar 1991 gegen die Belagerung der sowjetischen Truppen gebaut wurden: um dieses ambivalente moralische Klima zu neutralisieren. Riesige Betonquader blockieren den Straßenverkehr, rostige Eisengitter lehnen gegen Fenster, Stacheldraht und Sandsäcke sollen Angriffe abwehren. Galina Cepinski vom litauischen PEN-Zentrum erzählt mir stolz, daß (der inzwischen abgewählte, d.Red) Präsident Landsbergis versprochen hat, die Barrikaden so lange stehen zu lassen, bis der letzte der heute noch 40.000 russischen Soldaten das Land verlassen hat.

Nach langwierigen Verhandlungen hat man sich auf Ende August 1993 als Datum für den Truppenabzug geeinigt. Ein Referendum im Juni 1992 belegte jedoch die wachsende Ungeduld in Litauen. Auch die russische Bevölkerung Litauens ist hiervon unvermeidlich betroffen, aber ihr Anteil an der Bevölkerung ist mit knapp zehn Prozent wesentlich kleiner als in den anderen baltischen Staaten. Ihre Sprache verschwindet aus dem öffentlichen Leben, in Vilnius sind kyrillisch geschriebene Straßen- und Geschäftsschilder verschwunden, in der Verwaltung erwartet man bereits von allen eine zumindest mittelmäßige Beherrschung des Litauischen. Der Anteil von Russen und anderen Minderheiten in qualifizierten Berufen und im Parlament ist niedrig.

Der Lyriker Vitalii Asovsky, ein Mitarbeiter der russischsprachigen Literaturzeitschrift Vilnius, meint, er kenne nur einen Parlamentsabgeordneten, der russische Interessen in Litauen vertreten habe: Vladimir Shved. Shved war Mitglied der Kommunistischen Partei und angeblich auch einer Gruppe, die den Angriff auf den Fernsehturm in Vilnius am 14.Januar 1991 leitete; mehrere Menschen waren da

bei ums Leben gekommen. Nach dem August-Putsch zog er sich aus der Politik zurück.

Die anderen vier russischen Abgeordneten tendieren dazu, der Politik der „Sajudis“, Litauens einflußreicher nationalistischer Bewegung, zu folgen und damit die Regierungspolitik zu akzeptieren.

Aus der Presse, aber auch aus dem kulturellen Leben ist die Stimme der Russen buchstäblich verschwunden. Das russischsprachige Blatt Ekho Litvy (Litauisches Echo), das fünfmal wöchentlich erscheint, vertritt Positionen der litauischen Regierung und wird auch finanziell von ihr unterstützt. Andere Blätter sind entweder Übersetzungen der litauischen Presse oder Zusammenstellungen ausgewählter Artikel. „Es gibt keine unabhängige russische Presse“, sagt Asovsky. „Zeitungen können hier nicht wirklich oppositionell sein: Sie haben nicht einmal eine eigene Meinung zu den Dingen. Sie repräsentieren nichts und niemanden.“

Die Russen fühlen sich hier ebenso wie in Estland und, in geringerem Maß, in Lettland durch die Rolle, die ihnen plötzlich zugewiesen wurde, demoralisiert. Sie leben isoliert von der Mehrheitsbevölkerung in einem Land, das nicht einmal eine besonders lange Grenze mit der russischen Föderation aufweist. Nur die Jüngeren sind zufrieden mit der Vorstellung, daß alle Russen, die vor 1989 in Litauen lebten, litauische Bürger werden können.

Die Litauer selbst sind beinahe ängstlich darauf bedacht zu betonen, daß sie sich von der russischen Bevölkerung im Lande durchaus nicht bedroht fühlen. Es handelt sich hier um die passive, politisch eher indifferente Präsenz vor allem von Fabrikarbeitern – und die Regierung sorgt dafür, daß dies auch so bleibt.

Die Situation der polnischen Minderheit ist jedoch eine andere. Czeslaw Okińczyc ist polnischer Parlamentsabgeordneter und Präsident einer der wenigen nicht von der Regierung geförderten Organisationen in Litauen, dem Zentrum für gegenseitiges Verstehen, in dem man Kontakte und Zusammenarbeit der verschiedenen Bevölkerungsgruppen anregt. Er beklagt, daß die Medien die Bevölkerung mit einem ständigen Strom von Regierungspropaganda überschwemmen. „Das ist die bolschewistische Tradition. Man wird nur über die Regierungsmeinung informiert, aber die Möglichkeit, einen unabhängigen Standpunkt zu hören, fehlt. Litauen versucht, eine offene Gesellschaft zu werden, aber gleichzeitig verschließt es sich.“

Der Schlüssel zu diesem Paradox liegt in der Differenz zwischen den gesetzlichen Rechten der Minderheiten und eingefleischten Haltungen und Vorurteilen, die das Alltagsleben beherrschen. Für Romuald Mieczkowski, Chefredakteur der polnischsprachigen Wochenzeitung Znad Wilii, resultieren diese Einstellungen aus dem langen und ambivalenten Verhältnis zwischen Litauern und Polen, dessen Geschichte weit über die stalinistische Besetzung in die Vergangenheit zurückreicht. „Man kann Rechte in einer wunderbaren Verfassung festschreiben, aber tiefverwurzelte Stereotype ändert man dadurch nicht. Wir haben hier eine historische Erblast, eine schwierige Vergangenheit miteinander.“

Im Mittelalter vereinigten sich die beiden Länder zu einem wenig geliebten Staatenbund, in dem der polnische Einfluß schließlich kulturell dominierend wurde. Im 18. und 19. Jahrhundert sprach die Stadtbevölkerung von Vilnius polnisch, während man auf dem Lande seine eigene Identität pflegte und erhielt. Dies führte nach Ende des Ersten Weltkrieges zur Errichtung eines eigenständigen Staates – aber erst nachdem polnische Streitkräfte Vilnius besetzt hatten. Vilnius und der die Stadt umgebende Bezirk blieben bis 1939 polnisch – eine Tatsache, die viele Litauer noch heute ärgert.

Nach dem Krieg zeigte sich die polnische Mehrheit der Sowjetisierung gegenüber weit aufgeschlossener als der Rest der Bevölkerung. Das offenbarte sich unmißverständlich, als die sechs polnischen Abgeordneten der Abstimmung über die Unabhängigkeit im März 1990 fernblieben – ein für Litauer absolut unentschuldbares Verhalten. Und obwohl beide Regierungen die heutigen Grenzen anerkannt haben, gibt es weiterhin viele Polen, die Vilnius als Teil Polens empfinden. Die offizielle Linie der Toleranz wird nicht selten vom Drang beider Seiten konterkariert, die fraglichen Gebiete unter Kontrolle der eigenen Ethnie zu halten. Zwar ist die Bevölkerung von Vilnius nur zu 18 Prozent polnisch, dafür aber existiert eine Vielzahl von Dörfern im umgebenden Bezirk, die fast vollständig polnisch sind.

Es gibt Berichte über behördliche Diskriminierung auf dem Land rund um Vilnius. Polnischen Bauern wurde der Landkauf mit der Begründung verweigert, der Boden sei für die Stadtentwicklung ausgewiesen. Den Polen, die solchen Boden besitzen, werden 7.000 Rubel pro Hektar (etwa der Preis eines Anoraks in Litauen) als Entschädigung für den Zwangsverkauf an die Stadt geboten. Der wahre Wert beträgt wohl eher mehrere Millionen Rubel pro Hektar.

Da angeblich der kommunistische Einfluß in zwei von polnischer Bevölkerung dominierten Bezirken, Salcininkaj und Vilnius, zu groß ist, wurden im September 1991 die regionalen Verwaltungen abgelöst und städtische Administratoren von oben eingesetzt. Gleichzeitig erschienen zwei neue regierungsfreundliche Zeitungen in polnischer Sprache, die die dortige Bevölkerung offenbar beruhigen sollten und sie höchst selektiv mit Nachrichten versorgen.

Romuald Mieczkowski ist der Meinung, daß seine Landsleute von der steigenden Arbeitslosigkeit am stärksten betroffen sein werden. Er selbst verlor beinahe seinen Job, als eine nationalistische litauische Gruppe seine Entlassung forderte. „Sie riefen an und schrieben anonyme Briefe, sie drohten, mich zusammenzuschlagen und Schlimmeres. Daß ich dabei war, als am 13.Januar beim Angriff aufs Parlament Leute umkamen, ist längst vergessen. Ich akzeptiere die Unabhängigkeit Litauens wirklich, aber ich möchte auch meine Würde als Nichtlitauer bewahren können.“

Ihre parlamentarischen Vertreter haben das Image der polnischen Bevölkerung nicht gerade verbessert. Die zehn polnischen Abgeordneten sind in der Mehrheit Kommunisten und offenbar einzig daran interessiert, der eigenen Klientel Vorteile zu verschaffen. Mieczkowski gibt zu, daß „unverantwortliches Verhalten“ von polnischer Seite die alten Ressentiments verstärkt hat. „Unsere Vertreter wußten sich in kritischen Momenten nicht recht zu verhalten. Wenn wir korrekt gehandelt hätten, dann hätten die Litauer jetzt keinen Vorwand, uns so mies zu behandeln. Da gab es wirklich einen Mangel an Intelligenz auf unserer Seite.“

Mieczkowski träumt von einer multikulturellen Gesellschaft in Litauen, die von ihrer Lage am Schnittpunkt zweier Kulturen, der katholischen und christlich-orthodoxen, profitieren könnte. „Diese Kombination könnte reiche Früchte tragen, besonders auf dem Gebiet der Künste. Es ist bestimmt kein Zufall, daß so viele kreative

Geister aus Vilnius stammen. Ihre Arbeiten besitzen eine besondere Qualität. Wir sprechen hier im Alltag drei Sprachen und müssen über die kulturellen Traditionen unserer Nachbarn wenigstens ein bißchen Bescheid wissen. Das ist schon eine Frage der Höflichkeit, auch wenn unsere Mentalitäten zwangsläufig verschieden sind.“

Die Entschiedenheit jedoch, mit der der junge litauische Staat seine eigene Identität behauptet, hat zu allzu simplen Beurteilungen der Angehörigen von Minderheiten geführt. „Den Ruf, prosowjetisch zu sein, wird man sehr schwer wieder los, selbst wenn es gar nicht stimmt“, sagt Czeslaw Okińczyc. „Das alte System hat so viel Not und Leid verursacht, daß dieses Etikett eine schwere Hypothek bedeutet.“