Man schreibt, weil man schreiben will

■ Interview mit Karl Martin Sinijarv, Anarchist der Ordnung

Er ist der jüngste Dichter Estlands, 21 Jahre alt, und hat sein Haar zu einem Pferdeschwanz gebunden. Das erste Gedicht veröffentlichte er mit 16 Jahren. Als er sich an der Tartu-Universität für einen Studienplatz in Theologie bewarb, wurde er trotz guter Noten in der schriftlichen Aufnahmeprüfung abgelehnt: er hatte einige Artikel über den Lutheranismus geschrieben, die als subversiv galten. Estland, so sagt er, ist ein „sehr lutherischer Staat“. Heute arbeitet Karl Martin Sinijarv als Journalist und verlegt seine Gedichte im Selbstverlag.

Vor der Perestroika trug die estnische Dichtung Züge eines ästhetischen, apolitischen Protests gegen die sowjetische Ideologie. Politisiert wurde die Literatur erst richtig in den späten achtziger Jahren, als das erste Mal offen über bis dahin unterdrückte Erinnerungen an die Arbeitslager und die Verfolgungen der letzten Jahrzehnte gesprochen werden konnte. In letzter Zeit sind viele Schriftsteller, die in den siebziger und achtziger Jahren bekannt wurden, ganz und gar in das politische Geschäft eingestiegen. Der berühmteste Fall ist der des hochgeschätzten Dichters Paul-Erik Rummo, heute Vorsitzender der „Estnischen Liberal-Demokratischen Partei“. Er sagt heute, daß er eigentlich immer Politiker sein wollte. Jüngere Schriftsteller jedoch, wie eben auch Karl Martin Sinijarv, experimentieren wieder mit einer Literatur, die von Politik und Religion frei ist.

Irena Maryniak sprach im April d.J. mit dem Lyriker.

Können Sie uns sagen, was Sie mit Ihren Texten erreichen wollen?

Ich weiß nicht, ob man Gedichte schreibt, um etwas zu 'erreichen‘. Man schreibt, weil man schreiben will. Ich spiele gern mit der Sprache. Ich kombiniere gern die alte Volksdichtung mit modernen Stilen, um einen interessanten Wort- Cocktail daraus zu mischen. Ich nenne es „Wort-Anarchie“. Das heißt nicht, daß ich Anarchist bin. Politisch bin ich rechts, aber im Schreibstil radikal, zumindest im Kontext estnischer Gegenwartslyrik. Jede Literatur hat ihre Hauptströmung: sozial, lyrisch ... Ich habe beides versucht. Am erfolgreichsten schwimmt man gegen den literarischen Strom, indem man bessere Gedichte schreibt. Ich schreibe gern in strengen Formen: Shakespearesche Sonette, Triolette, reimende Couplets oder klassische griechische Formen.

Ich mag die Avantgarde nicht, dieses Schreien und Heulen ... Ich will Anarchie als meinen Ausgangspunkt nehmen, aber zunächst muß ich zeigen, was ich kann. Nur die Besten können sagen, was sie wirklich wollen. Ich gehöre dem Untergrund an. Genauer gesagt, bin ich der Untergrundschriftsteller.

Sie haben einmal gesagt, Sie seien ein Ethnofuturist. Was ist ein Ethnofuturist?

„Ethnofuturismus“, das ist ein Wort, das ich mir ausgedacht habe. Als wir als eine Gruppe junger Schriftsteller anfingen, entdeckten wir, daß wir eigentlich Modernisten sind, die alle möglichen Stile ausprobieren. Es stellte sich heraus, daß wir alle in die gleiche Richtung gingen, und ich prägte das Wort „Ethnofuturismus“ dafür. Irgendwie paßt es, auch wenn ich damit nicht sagen will, daß wir eine bestimmte 'Schule‘ sind, und ich könnte jetzt auch kein 'typisch ethnofuturistisches‘ Gedicht zitieren. Die ethnofuturistische Stimmung ergibt sich aus vielen einzelnen Gedichten, die, streng genommen, modernistisch, surrealistisch oder futuristisch sind. Viele sind den ganz alten Dichtern sehr nahe. Aber wie sie ihre Themen und Methoden einbringen, hat doch sehr andere Ergebnisse.

Sehen Sie sich in irgendeiner Weise mit den Traditionen Estlands verbunden?

Eine Verbindung existiert durch die Form. Um das ganz zu verstehen, muß man die alten, anonym überlieferten estnischen Volkslieder und Gedichte kennen. Wenn man sich ein Volkslied vornimmt und seine Form, seinen Ton imitiert, dabei aber das Thema ändert, kommt etwas ziemlich Originelles dabei heraus. Man nimmt die Regeln des alten Wortspiels, erweitert sie und legt ein paar neue Dinge in die Leerräume. Das klingt wie ein Lied, evoziert aber ein Denken, das normalerweise in Lyrik seinen Ausdruck findet. Die Verbindung mit der Vergangenheit hat keinen Einfluß darauf, worüber ich schreibe; sie beeinflußt nur das Wie. Man benutzt die Möglichkeiten der Sprache, besonders Melodie und Klang.

Sehen Sie eine Beziehung zu der älteren Generation der Schriftsteller, der des Sozialistischen Realismus oder der Absoluten Lyrik?

Das ist etwas anderes. Die Verbindung, von der ich spreche, geht Jahrhunderte zurück, vielleicht sogar Jahrtausende: sie ist so alt wie die Sprache selbst. Was unsere direkten Vorläufer angeht: ich opponiere gegen nichts und niemanden. Verschiedene Stile nebeneinander hat es schon immer gegeben. Der größere Teil davon war zwar meistens Scheiße, egal ob sozialistisch, nationalistisch oder patriotisch. Gleichzeitig hat es immer auch gute Schriftsteller gegeben. Ich würde nie sagen, daß ich eine bestimmte literarische 'Ära‘ der nächsten vorziehe.

Trotz Ihres Anarchismus also würden Sie nicht sagen, Sie reagierten auf Ihre Vorgänger?

Nein, ich reagiere auf das, was kommt, nicht auf das, was war. Ich muß überhaupt gar nichts fürs Schreiben tun; es tut alles ganz von alleine.