Die Geschichte des Gelb

Eine Erzählung  ■ Von Andrei Levkin

Es wiegt schwer in unseren Händen, das Gewicht schnürt tief in die Hände, Gegenstände, Dinge, das übliche Gepäck einer Reise, unterbrochen durch Umsteigen: drei Stationen, vier Stationen: ein Pier und ein Hafen am anderen Ende der Überfahrt; dann weitere 16 Stationen, eine Fahrt per Anhalter, ein Stadtbus, ziemlich lädiert von seinen Reisen zum Bahnhof; im abgestumpften Schlaf ragen die Beine in den Gang des Dritte-Klasse-Schlafwagenabteils, oder ein Arm hängt von der Koje herab in den Gang; eine Reise mit Lampen in einem Fenster, ohne heißes Wasser, so daß es keinen Tee gibt, nur Wodka für 50 Rubel (der Preis im Sommer 1991) vom Schaffner, zu wenig Wasser zum Waschen, so daß man sich morgens den Kopf in den Toiletten wäscht und die Hälfte einer Seifenschachtel benutzt, sich das Wasser überzugießen; vorbei an Gebäuden aus dicken Holzbohlen, vorbei an Betonplatten, die sich durch die Geschwindigkeit des Gerüttels verwischen, und die eisenbahneigenen Steppdecken hängen in grauen Dreiecken von der oberen zur unteren Koje wieder schwer herab.

In der Gegend von Kineschma gingen die Zigaretten aus, also nutze ich deine Weiblichkeit aus und schicke dich zum anderen Ende des Wagens, damit du welche abstaubst bei irgendeinem Typen; ein Typ – ich – kommt dir eineinhalb Minuten später nach, damit du sie nicht alleine aufrauchen kannst, ich sehe einen Soldaten, die Jacke ist nicht zugeknöpft, ein grünes Hemd, auch nicht zugeknöpft, der Schlips verrutscht, die Epauletten rutschen ihm von den Schultern, reibt sich den Rücken an der Wand, redet ohne Pause, als ob das was nützt, wenigstens beim Erzählen seiner Lebensgeschichte, wobei er gerade ist, und damit braucht er bis ungefähr Vyshnyaya Volochka, steigt dann aus auf einem kleinen Bahnhof, wieder ölige Lampen zwischen eckigen Schatten und das tiefe Brummen von versteckter, eindeutig militärischer Maschinerie, als wäre das hier, wo das Wetter aus militärischen Gründen geändert wird – wenn man bedenkt, daß es ein Soldat war, der uns seine letzten Zigaretten überließ, von denen jetzt leider, nach seiner langen Lebensbeichte, keine mehr übrig sind, so daß du ans andere Ende des Wagens geschickt werden mußtest und das ganze wiederholen, während der Soldat, der ausgestiegen war, wegging in Richtung dieses planetarischen Lärms, der das Wetter kontrolliert, was normalerweise mit uns nichts zu tun hat, wo aber Bunker bis zur Decke vollgestopft sind mit Nebeln, Zyklonen, Taifunen, Sandstürmen, die vertikal aus Schächten entkommen und uns immerhin in Samara noch erreichen können, oder in Nishnii-Novgorod, wo wir vom Bahnhof aus den Bus zum Pier nehmen für die Überfahrt nach Kazan.

Dann hängen wir, nachdem wir den Müll des Zugabteils abgeschüttelt haben, auf dem Achterschiff herum, es wird feucht und kalt auf dem Fluß, und verstehen nicht, warum die Räder jetzt weicher geworden sind, so daß der Klang ihrer Umdrehung flüssig ist und klingt wie Blech, und das sanfte Rütteln ist nicht zu vergleichen mit dem, das uns fiebrig machte von Sankt Armalyk bis Novoskotoprigonevsk mit den permanent leeren Gängen zwischen Krasnoselsk und Dneproderevensk; dies ist keine Eisenbahn, es gibt eine Bugwelle am Achterschiff, und die Rucks rütteln nicht gegeneinander an, sondern sind wie ein Krampf und zwingen einen, mitten im Wort abzubrechen, was schlecht ist, aber andererseits ist es feucht und gut, und an den Flanken der Hügel, die ganz und gar mit Schatten überwuchert sind, kann man seltene, arrogante, manche würden sogar sagen: unnütze Lichter erkennen und merkwürdig aussehende schwarze Objekte, als ob es Nacht wäre auf dem Lychakovsk-Friedhof in Lvov, wo eine Bodensenke mit Lampenlicht gefüllt ist, und ich frage dich: wie sind wir hierhergekommen? Wohin? fragst du vielleicht, und wir verlieren uns in Gedanken.

Offenbar befinden wir uns zwischen Nishnii-Novgorod und Kazan, mein navigatorisches System kann keine detailliertere Auskunft geben; alles in allem sieht es so aus, als ob wir schlecht dran sind, denn wir reisen jetzt schon eine ganze Weile, so lange, daß es mir schon schwerfällt zu begreifen, wer du eigentlich bist, und umgekehrt ist das sicher auch so.

Hinzu kommt, daß du dir, weil du eine Frau bist, erlauben kannst, nicht ständig beim kleinsten Anlaß Löcher in die Gegend zu starren, denn du reist nicht unabhängig, sondern mit einem Mann, der deshalb in der Lage sein sollte, Jekaterinburg von Ivano-Frankovsk, Stanislav und Opochka zu unterscheiden, wenigstens die Namen; wir fahren anscheinend auf Gatschina zu, obwohl die gewählte Route eindeutig im Kreis geht.

Wenn wir nach Lvov kommen, falls wir dorthin kommen, wird alles vollkommen durcheinandergehen: gar nicht zu reden vom Lychakovsk-Friedhof, den wir wohl nicht einmal im Sommer erreichen werden, das ist die Sorte Stadt, wo es nicht einmal Wasser oder Tee oder Zigaretten geben und jedes sichtbare Ding wieder einmal gelb sein wird, sicherlich in einem etwas edleren Ton als andere Schattierungen dieser Farbe, die so charakteristisch ist fürs Reisen – einschließlich verschiedener Nationalfahnen und Kissenbezüge und der Rubel für Bettbezüge und des üblichen Lichts hinter dem wuchtigen Speicher und selbst der Farbe einer kleinen Pflanze im kleinen Vorgarten der Holzhäuschen der Bahnhofsvorsteher – das sind normalerweise wunderschöne Farben; und auch die Farbe der Gesichter schlafender Mitreisender auf den unteren Kojen, den ersten oder ungerade bezifferten, die ruckeln und donnern über Brücken: halb im Schlaf sah ich, daß sie da unten fest schliefen, und streckte meine Hand aus zwischen den Kojen und berührte dich leicht, stieß dich an, als wäre ich Teil des Geruckels – du hast nichts gesagt, nur den Arm zurückgezogen und dich weggedreht vom Fenster, in dem du uns den Fluß überqueren sahst, den wir jetzt hinabtreiben von Nishnii nach Novyi, du hast dich umgedreht und dich an die Wand gedrückt, dich geradezu in sie hineingedrückt, warum, das wußte ich nicht, und ich stieg runter, also kletterte nach unten oder fiel geradezu zu Boden und ging irgendwohin, ans Ende des Wagens, hatte ein paar Säufer entdeckt, die gegen Morgengrauen herausfanden, daß wir schon in der Gegend von Fastov waren, Richtung Vinnitsa fuhren, von wo aus die weitere Reise auch über Odessa ginge, das in meinem Plan gar nicht vorgesehen war, weshalb man schon lange in Grodno hätte aussteigen müssen, um umzukehren – da wir Gatschina brauchten —, und am Morgen auf einem mit Kernen übersäten Bahnsteig im frühen Gelb des Eisenbahnsonnenlichts fragte ich dich, warum du dich von mir weggedreht hast, und du sagtest, du hättest dich nicht weggedreht.

Also mochten wir beide Chelyabinsk nicht. Du wolltest mich weder kennen noch ansehen, noch anfassen, nicht einmal an dasselbe denken, vom Reden ganz zu schweigen – selbst darüber nicht, wohin wir fahren mußten und warum. Ich ging zum Buffet und kaufte einen merkwürdigen und sehr traurigen Fisch auf einem Stück Pappe, wir aßen den Fisch und fühlten uns besser, dann bist du auf der Bank eingeschlafen, bis der Zug kam, der uns nach Oranienbaum brachte, strikt solche gräßlichen Orte vermeidend wie Kakhovka, Cheboksary, Nezhin und Ust-Ilimsk – wo es ewige Schneestürme gibt, und wir sind in unseren Sommerreisekleidern, das heißt, haben irgend etwas an, was im Prinzip unwichtig ist, zumal ich immer weniger verstehe, wer du bist, wie du heißt, woher du gekommen bist und warum – obwohl es auch unklar ist, wo ich hergekommen bin und wofür du mich brauchst, abgesehen von der gemeinsamen Ankunft im völlig unverständlichen Putoshka, um dort was zu machen? Schließlich ist es nicht meine Schuld, wenn ich dir auf die Nerven gehe, denn trotz allem haust du nicht ab, und jetzt, da du mit mir auf einem kleinen leeren Bahnhof zwischen Volokolamsk und Kolomyiya gelandet bist, auf dem es nicht einmal eine Bank mit Armstützen oder Rückenlehne gibt, der verlassen ist, ein Fortsetzung nächst Seite

Fortstzung

Hahn kräht, ein Reetzaun knistert, Staub knirscht auf den Straßen, kannst du nichts anderes tun, als dich an mich lehnen, während wir auf den fahrplanmäßigen Postzug mit seinen patriotisch bemalten Waggons warten, und einschlafen auf die gemeinste Weise, und unsere Körper so ineinandergepaßt sind, daß man denken könnte, ein gemeinsamer, geradezu zusammengehender Geist redete da vor sich hin; so daß du mich nach einer halben Stunde nicht einmal mehr gehaßt und im Schlaf leicht gelächelt hast.

Dann wird es still sein, denn unsere Ohren sind müde geworden vom Hören der Eisenbahn, verschiedener Geschichten, dem Rollen von Flaschen über den Boden; geschwollene Lippen werden nicht mehr in der Lage sein weiterzureden, weder über Liebe noch über Kränkungen: alles hat vor langem schon aufgehört, nur reist es aus irgendeinem Grund immer noch weiter, wenn auch nur auf der Suche nach einem einzigen anständigen Ort auf Erden, eine Art Irkutsk, Yaroslavl, Kostroma, die, sollten sie en route erscheinen, nicht sie selbst wären, sondern Peremyshl, Voskresensk, Sergiev, Posad, Pavlovsk, Ustyug, Krasnodar, Taganrog, Oryol, Smolensk, Avtosavodsk, Industrialsk, Krasnoufimsk, Ust-Labaz, Bishkek, Amu-Darinsk, Volobujevsk und viele andere Namen, wo wir uns so verirren, daß dir nichts anderes übrigbleibt, als mit mir zusammen eine zu rauchen, am Ende des Waggons, wie üblich, du auf deine Ellbogen gestützt, an mich gelehnt, obwohl ich inzwischen nicht die geringste Ahnung mehr habe, wer du bist, weil ich dich jetzt schon so oft gesehen habe, daß es wieder schwer zu begreifen ist, woher du gekommen bist, vorbei an den üblichen Speichern, Bahnhofsvorstehern, Gasometern, abgehängten Waggons, und so stehen wir denn etwas beieinander, in warmer, zerknitterter Kleidung, schwankend, stehen wir schlafend zwischen kurzen Worten, entweder unseren eigenen oder anderen, die andere an uns richten, hier, wo draußen schon wieder Nacht herrscht und ein völliger Mangel an Pechora, Oranienbaum, Blagoveshtschensk, wohin ich, um ehrlich zu sein, auch gar nicht fahren will.

Die oberen Kojen, du, wir, Elektrizität zittert, und wir schlafen ein, haben nichts verstanden außer dem Charakter der Farbe Gelb, die in jedes Loch und jede Ritze kriecht, den Eindruck macht, daß sie etwas sehr Wichtiges verkörpert, obwohl sie zu unordentlich ist, aber andererseits wenigstens nützlich, des weiteren warm, riecht nach überhitztem Eisen, und sie liebt uns ein bißchen zu sehr und spuckt weiterhin Rauch, selbst wenn wir einschlafen, und brennt, wenn wir aufwachen – aber nicht, weil wir endlich irgendwo angekommen sind, in einem Morgen und frischer Luft, in einem verlassenen, verschlossenen Raum, der ruhig ist und nicht ruckelt, sondern irgendwie nachts, weil der Schaffner einen Fehler gemacht hat, vielleicht hat er sich verlesen und falsch verstanden, was wir auf unsere Tickets geschrieben hatten – was können wir verstanden haben, im Halbschlaf?

Wieder sind wir irgendwo in der Gegend zwischen Vologda und Orsha, wieder ist da ein Warteraum, gestrichen in einer Art Ingwer, ein flaches Gelb und verbogene Stühle mit Sperrholzsitzen zum Warten, auch gelb, der gestrichene Aluminiumofen in der Ecke des Warteraums; alles ist so angeordnet, daß jeder einzelne Platz vom anderen getrennt ist durch ein Rohr, Metall, auch verbogen, und wir können in der Hitze nicht einmal schlafen, bis der nächste Postzug uns aus diesem Raum trägt, dessen Decke zu hoch ist und wo wir – wegen des Echos – uns nicht einmal unterhalten können, und alles scheint wieder wenn nicht schlimm so doch auch nicht gut, und du gehst weg, stellst dich neben den Ofen und fängst an zu weinen, und was kann ich tun? Ich gehe raus auf die Straße – nicht auf den Bahnsteig, sondern auf die Straße – fast an dir vorbei, denn der Ofen steht nahe am Ausgang, lehne mich an eine Säule, von der der Stuck bröckelt, und rauche eine, schaue in die kleine Nacht einer Stadt im Sommer, ein lokales oder sogar regionales Zentrum wie Pskov, und weiß, daß du in meinem Rücken am Ofen weinst, und ich kann nicht einmal zu dir gehen – denn erstens habe ich nicht die Kraft; zweitens bin ich mit der Zigarette noch nicht fertig; und drittens ist der Warteraum ein öffentlicher Ort, ja, und was würde ich tun, wenn ich bei dir wäre?

Überhaupt, warum hast du dich von mir weggedreht in der Gegend von Slavyanogorsk? Warum standen wir gelangweilt auf dem Achterschiff des kleinen Dampfers, acht Stunden lang, bis wir in Astrakhan ankamen? Als wäre Astrakhan etwas, das ... und warum, noch einmal, haben sie uns jetzt nachts herausgeworfen? Und schließlich, was können wir nachts machen in dieser noch nicht zu Bett gegangenen Stadt Saratov, falls es Saratov ist, mit einer Nacht, die auf den Morgen zugeht und in der du an einem kalten Ofen stehst und weinst. Warum riecht es hier nach verbrannten Knochen, wie in Vinnitsa? Woher kommt dieses schwarze Wasser vor uns, als ob dies immer noch St. Petersburg wäre? Warum orgelt dieser Typ auf der Suche nach Kleingeld Ramona aus seinem Akkordeon in so mechanischer, Moskauer Weise runter? Und wohin gehen schließlich all diese Drähte in der Stadt, und wann geht der nächste Zug, und bist du das wirklich, zurückgelassen im Wartezimmer, weinst du immer noch, gehst du vom Ofen zur Fensterscheibe, und was kannst du durch sie sehen?

Weil das, das ist das einzige, von dem ich jetzt überzeugt bin – wie ich mich umdrehe, sehe ich dich an der Fensterscheibe, aus irgendeinem Grunde dagegengepreßt, in dem natürlich gelben, deutlich gelben Fenster, das dich zu nerven scheint, weil das – es, das Gelb, also das hinter uns – schon hinter uns liegt, das heißt, wir sind ihm trotzdem entkommen, es bedeutet uns jetzt nichts mehr – obwohl mir dies jetzt wieder eingefallen ist, wenn auch nur in diesen Worten.

Andrei Levkin ist ein russisch-lettischer Schriftsteller. Er gibt die Zeitung „Rodnik“ heraus und arbeitet im lettischen Fernsehen. Seine literarischen Texte werden hauptsächlich in Sankt Petersburg publiziert. (siehe auch: Maryniak, „Neue Mauern in Lettland“).