Die Kommunikation verschärfen

Habermas' „Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats“  ■ Von H. Meier

„Der Unterschied zwischen Sein und Sollen kann nicht näher erklärt werden. Er ist unserem Bewußtsein unmittelbar gegeben“, so Hans Kelsen, der ins US-amerikanische Exil vertriebene demokratische Rechtstheoretiker. Seine positivistische, in diesem Sinne Reine Rechtslehre, führte moderne Rechtsordnungen auf eine „transzendental-logische“, also nicht weiter ableitbare Voraussetzung, die „Grundnorm“, zurück. Mit diesem erkenntnistheoretischen Kunstgriff konnte er auf dezidiert antiideologische Weise die Weimarer Reichsverfassung ebenso wie die Verfassung Sowjetrußlands als geltende, im großen und ganzen wirksame Zwangsordnung interpretieren. Eine bis heute Maßstäbe setzende „agnostische“, weil konsequent formale Konstruktion des Stufenbaus der Rechtsordnung, die alle Fragen nach der Vernunft dieser Ordnung rigoros zurückwies.

Wo der Rechtstheoretiker Kelsen aufhört, beginnt der Sozialphilosoph Jürgen Habermas. Mit „Faktizität und Geltung“ erweitert er seinen diskurstheoretischen Ansatz, der bisher der moralphilosophischen und ethischen Erkenntnis individueller Willensbildung galt, funktional auf kollektive politische Prozesse: Die posttraditionale Gestalt einer prinzipiengeleiteten Moral, so der Autor, ist auf die Ergänzung durch positives Recht angewiesen. Während Kelsen die bei Kant angelegte Unterscheidung von Recht und Moral positivistisch radikalisierte, denkt Habermas interdisziplinär und methodenpluralistisch – und gelangt zu einem verfahrensbezogenen Verständnis von Gerechtigkeit. Nicht mehr und nicht weniger als das „Projekt“ vernunftgeleiteter demokratischer Selbstbestimmung steht damit zur Verhandlung. Erklärtes Ziel ist es, aus der „Ahnung eine Einsicht zu machen..., daß im Zeichen einer vollständig säkularisierten Politik der Rechtsstaat ohne radikale Demokratie nicht zu haben und nicht zu erhalten ist“.

Die Theorie des kommunikativen Handelns, ausgeführt in dem 1981 vorgelegten umfänglichen Werk, nimmt die Spannung zwischen Faktizität und Geltung schon in ihre Grundbegriffe auf. Damit wird an dem theoretischen Anspruch festgehalten, daß es einen „internen Zusammenhang zwischen Gesellschaft und Vernunft“ gibt. Der Sprache als einem „universalen Medium der Verkörperung von Vernunft“, wie Habermas sie begreift, wird die grundlegende Funktion der Handlungskoordinierung zugeschrieben. Seiner Sprachtheorie zufolge ist der verständigungsorientierte Gebrauch der Sprache ihr selbst immanent.

Im Anschluß daran versteht Habermas das moderne positive Recht als eine Kategorie, welche zwischen Faktizität und Geltung gesellschaftlich vermittelt und die darin angelegte Spannung nicht einebnet, sondern auf allen Stufen institutionell stabilisiert: „Rechtsnormen ermöglichen hoch artifizielle Gemeinschaften, und zwar Assoziationen von gleichen und freien Rechtsgenossen, deren Zusammenhalt gleichzeitig auf der Androhung äußerer Sanktionen wie auf der Unterstellung eines rational motivierten Einverständnisses beruht.“ Ein im Medium des Rechts gestifteter Zusammenhalt mithin, der zugleich auf gewaltförmiger Faktizität wie transzendierender Geltung beruht.

Als „System der Rechte“ rekonstruiert Habermas aus seiner Diskurstheorie jene Basisprinzipien, die Bürger einander zuerkennen müssen, wenn sie ihr Zusammenleben durch positives Recht „legitim regeln“ wollen. Bereits hier, auf der begrifflich-idealtypisch gedachten Ebene horizontaler Vergesellschaftung, wird thematisiert, „warum sich private und öffentliche Autonomie, Menschenrechte und Volkssouveränität wechselseitig voraussetzen“.

Mit der „Idee des Rechtsstaates“ wird die begriffliche Analyse um eine entscheidende Perspektive erweitert: um die vertikale Ebene des Verhältnisses der Bürger zum Staat. Das „Gedankenexperiment“ der wechselseitigen Zuerkennung von Rechten bliebe ein „metaphorisches Ereignis“, würde es nicht durch eine rechtlich verfaßte staatliche Gewalt stabilisiert. So werden aus der „diskurstheoretischen Lesart“ der Volkssouveränität die Prinzipien des Rechtsstaats begründet.

Staatlich organisierte Herrschaft ist nur dann legitim, wenn ihre Gesetze unter Beteiligung aller Normadressaten zustande kommen. An den Parlamentarismus wird die (notwendig idealisierende) Vermutung geknüpft, daß dessen Verfahren (annähernd) vernünftige Ergebnisse hervorbringen. Parlamentarismus allein genügt jedoch nicht, die rationale Zustimmung aller Beteiligten zu begründen. Habermas' anspruchsvoller Begriff von „politischer Autonomie“ geht mit der These einher, daß Legitimation durch Verfahren ohne die spontane Mobilisierung von Bürgerfreiheiten nicht gelingen kann.

Anhänger basisdemokratischer Demokratieverständnisse werden daher dem Begriff der „kommunikativen Macht“, den Habermas im Anschluß an Hannah Arendt einführt, erhöhte Aufmerksamkeit schenken. Dieser Typus von Macht ist durch spontane kollektive Willensbildung charakterisiert und gelangt bei der Entstehung politischer Macht, am prägnantesten im Zuge revolutionärer Prozesse, zum Ausdruck. Die administrative Macht der Apparate soll sich nicht selbst reproduzieren, sondern an die Prozesse kommunikativer Macht rückgekoppelt werden.

Das Netzwerk frei assoziierter Bürgerinnen und Bürger gehört, so Habermas, zu jenen „nicht vermachteten“ Foren, aus denen der rechtsstaatlich regulierte Machtkreislauf seine eigentliche Vitalität speist. Diese „Zivilgesellschaft“ interpretiert er als moderne Formulierung der Strukturprobleme jeder spontanen „politischen Öffentlichkeit“. Seine Hoffnung setzt er gerade darauf, das staatliche Machtzentrum möge von den Rändern der Gesellschaft her die lebensnotwendigen Impulse der Erneuerung empfangen.

In jenem „,wilden‘ Komplex“ geht es zuweilen recht ungeordnet zu, auch das ist praktisch gewendete Diskurstheorie: „Einen anarchischen Kern hat jedes Potential entfesselter kommunikativer Freiheiten, von dem die Institutionen des demokratischen Rechtsstaats zehren müssen, wenn sie gleiche subjektive Freiheiten effektiv gewährleisten sollen.“ An anderer Stelle spricht Habermas gar emphatisch vom „Taumel“, den jene Entfesselung hervorruft.

Die Habermassche Diskurstheorie und die Prinzipien des modernen Verfassungsstaats gehen in der Tat gut zusammen. Denn die demokratische Verfassung ist der Idee nach nichts anderes als das rechtliche Medium, in dem sich friedliche Konfliktaustragung, also gesellschaftliche Evolution unter Beteiligung aller vollziehen kann. Das trifft sich mit dem Anspruch, daß Herrschaft und Gewalt als Bindemittel der Gesellschaft minimiert werden müssen. Auf Zwang basierende Integration ist brüchig und bringt oftmals jene Krisen hervor, die sie stillzuhalten vorgibt. Allein die demokratische Verfassung des Rechtsstaats ermöglicht kommunikative Vernunft: Emanzipation und Solidarität.

Mit der Zuwendung zu den Institutionen des demokratischen Rechtsstaates hat der Diskurs seine „herrschaftsfreien“ Zonen verlassen. Die Gewalt, die jeder Form politischer Herrschaft innewohnt, wird klar ins Auge gefaßt. Habermas charakterisiert das staatliche Gewaltmonopol sachlich-kühl als „Drohpotential“ rechtsförmig organisierter Herrschaft, die „eine kasernierte Gewalt in Reserve hält“. Die Praxis politischer Autonomie tendiert allerdings zur unablässigen Sublimierung roher Herrschaft und birgt von daher einen utopischen Überschuß.

Die Diskurstheorie des demokratischen Rechtsstaats ist, wenn man so will, ein eminent idealistischer Ansatz. Vernünftige Selbstgesetzgebung soll sein und wird als möglich gedacht. Habermas geht mit guten Gründen davon aus, daß ohne „kontrafaktische Idealisierungen“ politisches Denken früher oder später in abgeklärte Zynismen mündet. Gerade darin liegt ja die sanfte Bestimmtheit, die listige Vernunft der Diskurstheorie: Sie stellt sich unter den von ihr postulierten Bedingungen selber zur Diskussion, wenngleich ihr Kern, die Idee der Autonomie, unverfügbar bleibt.

Im Anfang war der Diskurs. Und... die schnöde Verfassungswirklichkeit? Zu den Argumenten, die gegen das Habermassche Modell formuliert werden, zählen solche der Systemtheorie. Die Krise des Rechtsstaates wird üblicherweise als Verselbständigungstendenz der administrativen Macht charakterisiert, woraus die abnehmende Steuerungsmöglichkeit eines marginalisierten Gesetzgebers folgt. Habermas hält dem entgegen, daß die ernstzunehmenden Krisensymptome keine ausweglose Krise des Rechtsstaates als solchem begründen. Die „sozialintegrative Kraft des Rechts“ sieht er nicht generell überfordert. Ob man die tendenzielle Abkoppelung privater und administrativer Macht vom Prozeß der demokratischen Willensbildung in eine Theorie kollektiver Selbststeuerung realistisch aufnimmt oder aber aus diesen Strukturdefiziten kurzerhand eine defätistische Verfallstheorie konstruiert – das macht eben eine Unterschied ums Ganze aus.

Mit Blick auf die Unbestimmtheit des Rechts, insbesondere von Verfassungsordnungen, die eine geringe Regelungsdichte und notwendig weite Normen aufweisen, problematisiert Habermas, inwieweit richterliche Rechtsanwendung rational sein kann. Mit der Theorie des juristischen Diskurses gerät das Problem der Verfassungsgerichtsbarkeit in den Blick, die in den USA und vor allem in der Bundesrepublik über weitreichende Kompetenzen verfügt. Unter dem Aspekt der Gewaltenteilung und des Demokratieprinzips werden Probleme der Verfassungsinterpretation am Beispiel der abstrakten, vom Einzelfall gelösten Normenkontrolle analysiert. Habermas stellt nicht nur zur Diskussion, ob diese Art richterlicher Supervision nicht durch die Selbstkontrolle des Parlaments abgelöst werden sollte. Er kritisiert zudem die Wertejudikatur des Bundesverfassungsgerichts und bringt dabei sein „prozeduralistisches Rechtsparadigma“ ins Spiel. Ein solches Hintergrundverständnis, das die Kommunikationsgrundrechte betont, werde für die Verfassungsrechtsprechung, so hofft der Autor, eine limitierende und rationalisierende Funktion haben. Ob jedoch auf diese Weise judicial self-restraint zu erzielen ist, steht eingedenk der kontroversen Methodendiskussion im Verfassungsrecht dahin.

Im Anhang findet sich der Beitrag Staatsbürgerschaft und nationale Identität. Hier reformuliert Habermas seine Lesart von „Verfassungspatriotismus“ als gemeinsamem Nenner multikultureller Gesellschaften. Dies geschieht mit Blick auf das universalistische Erbe der westlichen Demokratie und auf den Bedeutungsverlust der Nationalstaaten. Sein nicht in nationaler Identität wurzelnder, also nicht ausgrenzender Begriff der demokratischen Staatsbürgerschaft ist angesichts wachsender Xenophobie hochaktuell.

Zweifellos ist die Habermassche Diskurstheorie des demokratischen Rechtsstaates ein dezidiert reformistisches „Projekt“. Solange Kommuniziert wird und die weichen Mittel der Verhandlung, des Kompromisses, der Überzeugung oder Überredung eingesetzt werden, beherrscht nicht „stumme Gewalt“ das Terrain. Carl Schmitt und die Bürgerkriegsstrategen unserer Tage haben mit dem, was sie als „ewiges Gespräch“ verächtlich machen, nichts am Hut. Wer dagegen die Kommunikation verschärfen will, wo immer und solange dies nur irgend möglich erscheint, ist auf Markierungen wie die von Habermas angewiesen; zumal in Zeiten, da das innenpolitische Klima rauher wird.

Jürgen Habermas: „Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats“. Suhrkamp Verlag, 667 Seiten, 48 DM kartoniert, 92 DM gebunden