Ein Quentchen Luft über'm Schlot?

Nach achtzig Jahren wurde das Braunkohlekraftwerk Hirschfelde stillgelegt/ Die Zukunft für den Ort direkt an der polnischen Grenze heißt: Müll/ Auf der anderen Seite der Neiße qualmen die Schlote weiter  ■ Von Detlef Krell

Der Bummelzug auf Gleis vier steht schon fünf Minuten zu lang im Bahnhof. Aber das ist nicht weiter ärgerlich, denn es sitzen nur ein paar Leute drin; ein Pärchen, sie hält einen Blumenstrauß, er ein Paket, ein älterer Herr, der das örtliche Anzeigenblatt faltet, im letzten der drei Wagen ein Skin. Kaum verläßt die Lok den Bahnhof, da lächelt schon die Schaffnerin heran. Sie freut sich über jeden Gast. Görlitz, die Stadt an der Neiße, hält ihre Reize versteckt. Kleingärten, Baracken, Abrißhäuser, ein Fußballacker, hingekrümelte Vorstadt. Der Zug streift die Landskrone. Ein Berg, der dem hiesigen Bier den Namen gibt. Schon wird der Krater sichtbar, der Braunkohletagebau Berzdorf, am Horizont ein Schaufelradbagger. Das Dorf heißt Deutsch-Ossig, es ist leer. Auf einen Gartenzaun ist ein Hammersichelährenkranz gespießt. Was an diesem Braunkohledorf noch zu bewahren ist, so berichtet eine Lokalzeitung, bringen Denkmalschützer in ein nahegelegenes Museum. Das Rokoko aus der kleinen Kirche glänzt bald im neuen Gotteshaus im Neubaugebiet. „An der Dorfkirche hängen 5.000 Arbeitsplätze“, erzählte kürzlich ein Görlitzer.

Zwischen den Gleisen der Kohlebahn und dem Rand der Grube lugen Gartenlauben aus dem Gebüsch. Kühltürme und Schlote kündigen das Kraftwerk Hagenwerder an. Der Bahnhof ist ein schöner Klinkerbau, die Stadt dahinter grau. Der Zug bummelt über weite Wiesen, rumpelt über die Neiße. Zwei Reihen Grenzsteine werden sichtbar. Vorn die rotweißen, schwarzrotgoldne hinter dem schmalen Fluß. Am polnischen Ufer hocken Angler. Kinder spielen mit einem Hund. Zwei Grenzer langweilen sich am Bahnhof Krzewina Zgorzelec, sie schauen dem Blumenpaar zu, wie es zur Brücke geht, das Drahttor nach Ostritz öffnet und wieder schließt.

Dichtbewaldete Hänge rücken an das Gleis und das Gleis an den Fluß. Der ist hier nur knietief. Eine Furt für die Flüchtenden aus dem anderen Europa. „Hier sehen wir täglich das Elend, hautnah“, läßt sich der Mann mit dem Anzeigenblatt vernehmen. Wieder passiert der Zug die Neiße. Ein Wald von Schornsteinen und mächtigen Kühltürmen tritt hinter den Bäumen hervor. Das polnische Kraftwerk Turow und sein deutscher Nachbar. Hirschfelde heißt die Station. Aussteigen. Die Schlußlichter verblassen, nur noch wenige Minuten wären es bis Zittau.

Hirschfelde rauchte. Mehr als achtzig Jahren. Als das Braunkohlekraftwerk am 13. April 1911 durch die AEG in Betrieb genommen wurde, war es das modernste in Europa. Heute ist es das älteste Deutschlands. Entlang der „Straße zum Kraftwerk“ stehen Baracken und Werbeschilder kleiner Firmen. Sogar frischen Karpfen gibt es, bei der Oberlausitzer Edelfisch GmbH, Warmwasseranlage Hirschfelde. Hinter der offenen Werksschranke geht die Straße weiter, vorbei an mehreren halb zerfallenen Kühltürmen, einer grünumrankten Plastik, auf der sich Grubenmann und Kraftwerker die Hände drücken. Die Straße endet direkt vor der Schaltwarte. Hier nahm Schichtleiter Udo Hans am 23. November 1992 um 11.32 Uhr die beiden letzten Generatoren des Werkes vom Netz. Im Kraftwerk Hirschfelde ging der Ofen aus.

Das Telefon klingelt. „Ja, wir haben eben abgefahren. Sektkorken war nicht“, plaudert Dietmar Anders, „aber hundert Leute standen hier in der Schaltwarte. Na, ich hoffe doch, daß die ESAG mich übernimmt. Was soll man machen als Kraftwerker. Da weiß man einen Haufen Sachen, die man woanders nicht braucht.“ 48 Jahre alt ist der gelernte Kraftwerker, und wie sein Schichtleiter schon eine Ewigkeit in diesem Werk. Die beiden bleiben noch für ein Jahr in ihrer Schaltwarte. Nachdem das Kraftwerk als Stromerzeuger abgeschaltet ist, muß es im Landesnetz noch eine Weile als Umspannwerk fungieren. Nun werde verhandelt, daß die Energiewerke Schwarze Pumpe AG als Netzeigentümerin die Warte übernimmt. „Ein bißchen komisch ist einem schon“, sinniert Dietmar Anders, „nach soviel Jahren das Werk abzuschalten. Der Termin war zwar lange bekannt, doch trotzdem. Irgendwie tut es mir leid.“

Hirschfelde gehört, wie alle Kraftwerke im Osten, der Vereinigten Energiewerke AG (VEAG). Es war mit mehr als 200 Beschäftigten der letzte größere Arbeitgeber in der südöstlichen Oberlausitz, einer Region, in der die Arbeitslosigkeit bei sechzig Prozent liegt. Vorwiegend die älteren Kollegen werden als „Arbeitsbeschaffung“ ihr Werk abreißen. Einige Fachleute kamen in den benachbarten Kraftwerken unter, in Boxberg, Hagenwerder, Jänschwalde; andere fanden einen Job in einer der Firmen, die sich auf dem Kraftwerksgelände bereits angesiedelt haben. Betriebsrat Marian Melde zieht unter die Rechnung einen Strich. Es bleiben 90 KollegInnen, auf die am 31.12. nur eine Abfindung wartet – „zu sehr günstigen Konditionen“. Vorstandsmitglied August-Wilhelm Eitz hält dem Unternehmen zugute: „Wir haben niemanden ins soziale Abseits geschickt!“ Wer noch keinen neuen Arbeitsplatz habe, weil „er vielleicht nicht flexibel genug war“, könne im neuen Jahr eine der „endlich bewilligten ABM-Stellen“ für den Abriß des Werkes belegen. „Du findest unter tausend Firmen keine zweite, die sich so fair um ihre Leute kümmert“, will ein Kumpel „mal ganz sachlich“ gesagt haben. Er steht mit diesem Lob nicht allein da. Vergleiche werden herangezogen. Immer wieder die Textilindustrie, die „von einem Tag auf den anderen sang- und klanglos zusammengebrochen ist. Ohne solche Abfindungen“.

Das weiß auch der Betriebsrat zu schätzen. Er stellt klar, daß sie nie Illusionen über den Bestand des Werkes hatten. Als die Frist, ursprünglich bis 1996 gesetzt, immer kürzer wurde, begann ein harter Kampf mit dem Vorstand. Anfangs habe die VEAG stur auf ihr Unternehmensziel gepocht und sich für die Zukunft des stillgelegten Standortes gar nicht interessiert. Daß sie nun schon ein halbes Dutzend Firmen binden konnte, sei ein „erster, vorsichtiger Ansatz für höheres Engagement“. Eine Ursache für den Sinneswandel liegt auf der Hand: Nach den relativ kleinen Werken Zschornewitz (Brandenburg) und Hirschfelde stehen Riesen wie Lübbenau-Vetschau und Hagenwerder auf der Abschalt-Liste. „Das zwingt die VEAG, über neue Profile nachzudenken“, meint Betriebsrat Melde. „Wir werden den Kraftwerksstandort aufgeben, aber nicht den Industriestandort“, bestätigt Vorstand Eitz.

„Unn vor dreißg Joahren hoamers erst erweitert“, erinnert sich ein Besucher, der damals „mit dem Bautrupp ieberoall rumgekrochen“ ist und einen alten Kollegen trifft. „Weeßte noch, dar Quoalm...“ Wehmütig nehmen die Hirschfelder Abschied von ihrem Kraftwerk. Den ganzen Nachmittag über pilgern SeniorInnen, Familien, Jugendliche durchs Werk, zur Schaltwarte, ins Maschinenhaus, zwischen den Klinkerhochhäusern und am Neiße-Ufer entlang. Die Gießmannsdorfer Brücke ist ein Wehr, das sich mit einem grazilen, steinernen Bogen über den Fluß spannt, eine der Zierden des um die Jahrhundertwende konzipierten Industriegeländes. 1945 verhinderten Angehörige des Kraftwerkes die Sprengung dieses Wehres durch die Faschisten. Auch die Brücke, über die Anfang 1980 die letzten polnischen Kohlezüge rollten, steht noch. Heute munkelt es im Betrieb, „Polen hätte uns gerne wieder mit Kohle aus Turow versorgt“, statt dessen würden „wir dichtgemacht und Turow mit EG- Mitteln saniert“. Niemand weiß etwas Genaues.

Für die meisten in dieser Gegend sind „die Polen“ an der anderen Seite des Flusses nur die unbekannten Nachbarn. „Das war schon mal anders“, erinnert sich Jana Rybasch, die vor drei Jahren noch in dem inzwischen eingegangenen Robur-Werk Zittau gearbeitet hat. „Es gab damals viele persönliche Freundschaften, die Leute haben sich besucht.“ Jetzt findet Nachbarschaft nur noch auf den grenznahen, polnischen Märkten statt, wo die D-Mark alleiniges Zahlungsmittel ist. „Die haben da drüben so ihre Probleme, und hier hat keiner Interesse, sich damit auseinanderzusetzen.“ Die junge Technische Zeichnerin ist Sprecherin der Schwerbehinderten des Kraftwerkes. Bisher wurde keinem der sieben Behinderten gekündigt. Die meisten haben noch befristete Arbeitsverträge mit der VEAG. Eine Frau, die aufgrund häufiger Krankheiten selten im Betrieb war, weiß noch nicht, was wird; und Jana selbst hat weder eine Kündigung noch einen Vertrag in den Händen. „Man will euch auf kulante Art loswerden“, vermutet der Betriebsrat.

Viele Frauen arbeiteten hier, als Elektrikerin, Mechanikerin, Zeichnerin. Die Abschaltung traf sie wieder einmal am härtesten. „ABM-Angebote gibt es nur für Männer“, resümiert Jana Rybasch, und mindestens eine der neuen Firmen, die sich auf dem Gelände ansiedeln, nahm definitiv keine Frauen. „Ich war nach der Geburt meines Kindes drei Jahre zu Hause“, erinnert sich die Kollegin, „nur Hausfrau und Mutter, das ist nichts für mich. Ich muß was zu tun haben und was bewegen.“

Über den Hirschfelder Schloten hat nun ein Quentchen mehr Luft Platz. „So arg war es doch gar nicht mehr“, wischt Schichtleiter Udo Horst die Klischees weg. „Zumindest beim Staub lagen wir am Ende unter den bundesdeutschen Grenzwerten.“ Die „anderen Sachen“ hat keiner gemessen. Reinhard Jung, der junge CDU-Bürgermeister des 3.000-Leute- Städtchens, sieht sogar mehr Touristen kommen. In der Nähe steht ein barockes Kloster, gibt es Dittelsdorf, eines der wenigen vollständig erhaltenen Umgebindedörfer, Wälder und Gebirge. Das Ufer der Neiße hat nicht nur Krater und Brachen zu bieten. Doch zum Durchatmen reicht es nicht. Das Fundament aller Hoffnungen heißt daher: Müll.

Alle Firmen, die sich auf dem Werksgelände niedergelassen haben, arbeiten auf ein Ziel hin, das Abfallwirtschaftszentrum. Als Investor ist die R+T Umwelt GmbH Leipzig angetreten, Tochter der RWE Entsorgungs-AG Essen. Geschäftsführer Peter Dierkes spricht zuversichtlich von einer „kraftvollen Entsorgung“, die solch eine Zentrale inmitten eines „Spinnennetzes“ von Auftraggebern leisten könnte. In einer ersten Stufe, erklärt Unternehmensberater Martin Böhlandt, soll das Werk selbst recycelt werden. Damit sei schon begonnen worden. Das Projekt binde weitere kleine Firmen und sei, im Unterschied zur zweiten Stufe, nicht von hoheitlichen Standortentscheidungen abhängig. Für das Abfallwirtschaftszentrum ist nämlich auch Lauta bei Senftenberg im Gespräch. Doch von dort kommen eher schlechte Nachrichten; Investor und Treuhand liegen im Clinch.

Hirschfelde soll, nach den Plänen der R+T, ab 1997 Endstation für gesammelten Müll aus Verladestationen aus fünf Kreisen werden. Über die Schiene soll der verdichtete Hausmüll angeliefert und „thermisch behandelt“ werden. Sondermüll aus Haushalten will man nicht verbrennen, sondern nur zwischenlagern. Das Projekt könnte vorsichtig gerechnet mindestens 200 Leute beschäftigen. Zunächst, erklärt der Geschäftsführer, werde der Standort so vorbereitet, daß „die Politiker entscheiden können“. Er würde sein Netz ebensogut an anderer Stelle auswerfen. Aber warum nicht in Hirschfelde.