■ Zu den Tarifforderungen der ÖTV
: Von großen und kleinen Verzichtern

Den Reichen und den Superreichen ist die Einheit gut bekommen. Inzwischen kann Deutschland nach den Berechnungen des Wirtschaftsmagazins Forbes 95 Milliardäre mit einem Gesamtvermögen von 230 Milliarden DM vorweisen — 1990 waren es noch 82. Wer hat, dem wird gegeben und gelassen, wenn es um Lastenverteilung geht. Die oberen fünf Prozent in der Einkommenspyramide, die durchschnittlich monatlich 24.500 DM verdienen, beteiligen sich nach einer RWI-Untersuchung an der Finanzierung des Aufbaus in Ostdeutschland mit zwei Prozent ihres Einkommens. Wer dagegen ein durchschnittliches Monatseinkommen von 2.300 DM bezieht, dem werden über Steuern und Versicherungsbeiträge 2,7 Prozent seines Einkommens für den Aufbau-Ost abgezwackt. Angesichts dieser Zahlen klingen die Verzichts- und Solidaritätsappelle, mit denen die Bundesregierung und das Unternehmerlager die jetzt beginnende Tarifrunde erneut in Richtung Gewerkschaften begleiten, wie blanker Hohn.

Ein Bundeskanzler, der eine ganze Garde seiner politischen Lakaien zu hochbesoldeten Staatssekretären machte, und dessen Steuerpolitik dazu führt, daß die Reichen immer reicher werden, hat jedes moralische Recht verloren, von anderen Opfer zu verlangen. Das gleiche gilt für die Raffgeister in den Vorstandsetagen, deren Gehaltszuwächse jüngst deutlich über den Tarifabschlüssen lagen. Schamlos ihre Appelle an den Gemeinsinn. Verhielten sich die Arbeiter und Angestellten und ihre Gewerkschaften im Verteilungskampf ebenso rücksichtslos, dann wäre es um die Zukunftsfähigkeit der zivilen Gesellschaft in Deutschland schlecht bestellt. Wenn Gewerkschaften wie die ÖTV jetzt mit fünf Prozent Einkommenszuwachs lediglich eine Reallohnsicherung fordern, dann beweisen sie hundertmal mehr Gemeinsinn als alle Couponschneider dieser Republik.

Eine gesellschaftliche Umverteilung gelingt allerdings auf diesem Wege nicht. Allein eine andere Steuer- und Abgabenpolitik wäre in der Lage, die gröbsten Ungerechtigkeiten zu beseitigen. Allerdings, wollte man die Kosten der Vereinigung seriös finanzieren, bliebe auch nach einer sozial ausgewogenen Steuerreform für einen Großteil der abhängig Beschäftigten kaum ein höheres verfügbares Einkommen übrig. Dafür ist der Finanzbedarf einfach zu groß. Bei einer gerechten Lastenverteilung fiele es den vielen nicht in berauschenden wirtschaftlichen Verhältnissen lebenden Arbeitnehmern aber leichter, den Verzicht zu akzeptieren. Unter den jetzigen Bedingungen produzieren Maßhalteappelle aus den oberen Etagen nur Hohn, Frust und Haß. Eine gefährliche Entwicklung, die mittlerweile die Grundfeste der Demokratie schlechthin erschüttert. Walter Jakobs