"Und wer erzieht die Eltern?"

■ Gesichter der Großstadt: Mit Tanju Tügel wurde erstmals ein türkischer Deutscher Stadtrat / In Prenzlberg übernimmt er das Ressort Jugend und Familie

Prenzlauer Berg. „Inseln der Normalität“ möchte Tanju Tügel schaffen. Denn eigentlich müßte es doch normal sein, daß auch die Einwanderer irgendwann „in der Politik Verantwortung tragen“. Doch bisher, weiß der erste türkischstämmige Stadtrat Berlins, „sind wir nur einige wenige. Also Inseln.“ Vor anderthalb Monaten ist der von der PDS nominierte 35jährige Doktor der Ökonomie als Stadtrat für Jugend und Familie im Bezirk Prenzlauer Berg vereidigt worden. „Vielleicht gewöhnen wir ja die Leute daran“, hofft er nun auch im Hinblick auf den Rechtsradikalismus, „daß auch wir über die Geschicke in Deutschland mitentscheiden.“

Er selbst kann das jedoch auch bloß deshalb, weil er sich 1990 einbürgern ließ. In der Türkei geboren und aufgewachsen, kam er 1977 nach Köln und 1981 nach Ost- Berlin, um an der Hochschule für Ökonomie in Karlshorst „marxistische politische Ökonomie in der Originalsprache zu studieren“. Vor seiner Ankunft habe er geglaubt, bekennt er, die realsozialistischen Länder seien „Paradiese“. Der erste Eindruck sei ein „Schock“ gewesen. Danach jedoch habe er „vieles verdrängt oder als Kinderkrankheiten des Sozialismus angesehen“, obwohl er selbst nie SED-Mitglied war. Der Bruch kam für ihn 1988 mit dem Verbot der sowjetischen Perestroika-Zeitschrift Sputnik: „Ich sagte mir: So, das war's.“

Zurück in die Türkei zu gehen, kam ihm damals jedoch nicht mehr in den Sinn. Verheiratet mit einer Deutschen, war er inzwischen Vater einer Tochter und eines Sohnes. Er promovierte und arbeitete bis Ende 1989 als Assistent an seiner Hochschule. Als er nach der Wende sah, wie fluchtartig viele Professoren die umbenannte SED verließen, dachte er sich: „Jetzt kannst du eintreten. Wir haben zwar viele Betonköpfe, aber die Aktiven sind ehrlich.“ Ende 1990 kürte ihn die PDS zum Ausländerbeauftragten, Anfang 1991 wählte sie ihn in Vorstand und Präsidium. Als seine Partei nach den Bezirkswahlen 26 Stadtratsposten zu vergeben hatte, ihre beiden Kandidaten im Bezirksparlament Prenzlauer Berg jedoch fünfmal durchfielen, fragte sie bei Tanju Tügel nach. Und der hatte Lust. Nicht zuletzt deshalb, weil er sich als Ausländerbeauftragter „schon in den letzten Jahren viel mit Jugendarbeit“ beschäftigt hatte.

Was ihn jedoch richtiggehend aufbringt, ist die „Gleichsetzung von Jugend und Gewalt“. Die Jugendlichen, die sich bei rassistischen Anschlägen beteiligen, „sind nur die Übersetzer der gesellschaftlichen Atmosphäre“, weiß er. Die Eltern oder Großeltern, die womöglich Beifall klatschten oder früher selbst Nazis waren, würden bei dieser Betrachtungsweise völlig aus dem Blick geraten. Für ihn drängt sich hier die Frage auf: „Und wer erzieht die Eltern?“

Daß es früher in der DDR „keine offene Diskussion“ über Rassismus und über die deutsche Vergangenheit gab, ist für ihn im nachhinein „der größte Fehler“. Auch in den antifaschistischen Filmen habe es beispielsweise nur geheißen: „Hitler ließ sich feiern“, statt den Satz umzudrehen: „Die Bevölkerung feierte Hitler.“ Auch zu DDR-Zeiten habe es schon rassistische Übergriffe gegeben, aber „damals wurden die Leute halt wegen Rowdytums eingeknastet“. Das heutige Ausmaß des Rechtsradikalismus in Ost und West erschreckt deshalb auch ihn. „Meine Tochter hat mir mal gesagt, sie sei froh, Mamas Haarfarbe zu haben. Es ist doch erschütternd, wenn ein achtjähriges Mädchen schon solche Überlegungen anstellt.“

Darum möchte er auch im Sinne der Vorbeugung in seinem Bezirk „Strukturen schaffen, wo Kinder und Jugendliche selbstbestimmt leben können“. In die Vernunft der Kinder, sagt er lächelnd, habe er „mehr Vertrauen als in die vieler Erwachsener“. Allerdings, gibt er zu, sind seine finanziellen Möglichkeiten „fast null“. Vor allem bei Einrichtungen für die gut 30.000 Jugendlichen im Prenzlauer Berg gebe es „große Defizite“, der bezirkliche Versorgungsgrad liege mit 21 Projekten bei nur 32 Prozent. Zwei von drei Jugendlichen bleiben also unversorgt. Und das Angebot wird sich wohl noch verschlechtern, wenn diverse Mietverträge in absehbarer Zeit auslaufen und die ABM- Stellen bei den soziokulturellen Projekten gestrichen werden. Unabhängig von der Gesetzeslage, sagt Tanju Tügel, „brauchen diese Leute ein klares Wort vom Senat, was mit ihnen und ihren Projekten passieren soll. Denn sonst ist die Katastrophe vorprogrammiert.“

Besser sieht die Situation bei den Kindertagesstätten aus. Dort sind nicht wenige Plätze frei, seit die Geburtenrate im Osten um die Hälfte zurückging. „Wer einen Kitaplatz braucht, kann gerne zu uns kommen.“ Da schon sein Amtsvorgänger vom Bündnis 90 die Kita-Leitungen aufgefordert habe, verschiedene pädagogische Ansätze zu entwickeln, habe man jetzt eine bunte Vielfalt „vom Ökogarten bis zum Integrationskonzept“ anzubieten. Erziehung zum Antirassismus von Kindesbeinen an – hoffentlich klappt's. Ute Scheub