Mißglückte Reise

■ „Winternachtstraum“ – Dokumentarfilm von Andres Veiel

Eine Frau beendet Ende der zwanziger Jahre ihre Schauspielausbildung in Breslau. Das erste Engagement am Görlitzer Theater platzt, weil ihr Mann die damals notwendige Einwilligung verweigert. Sie führt statt dessen eine Leihbibliothek, bis der Betrieb unter den Nazis „arisiert“ wird und sie, eine Jüdin, mit einem Bauchladen ihren Lebensunterhalt verdient. Irgendwie überlebt sie den faschistischen Terror, zieht zwei Kinder groß und träumt ihr Leben lang vom Theater. In den hohen Siebzigern tritt sie dann einer Senioren-Theatergruppe in Berlin bei, den „Herzschrittmachern“. Eines Tages sitzt ein Filmemacher in der Vorstellung und wird auf sie aufmerksam. Er schreibt ein Theaterstück für die Gruppe, arrangiert ein Gastspiel in Görlitz, engagiert zwei Kameramänner und dreht. Die Idee ist gut, zumal der Regisseur Andres Veiel außerdem das Leben seiner heute 84jährigen Protagonistin Inka Köhler-Rechnitz nachzeichnen will. Dennoch ist „Winternachtstraum“, der daraus entstandene Dokumentarfilm, alles andere als ein großer Wurf.

„Es war wie eine Reise“, sagt Andres Veiel über die Dreharbeiten. „Alles was passierte – Flucht, Krankheit oder Erfolg –, alles wäre Thema des Films geworden.“ Er also hatte nichts zu verlieren, während Inka Köhler-Rechnitz den Verlust ihres Lebenstraums riskierte. Glücklicherweise hatten die „Herzschrittmacher“ mit der „Letzten Probe“, Veiels Stück über theaterspielende Altersheimbewohnerinnen, in Görlitz großen Erfolg. Das Publikum spendet stehend Ovationen. Ungläubig und huldvoll nimmt Inka Köhler-Rechnitz ihren um 60 Jahre verspäteten Premierenapplaus von den Görlitzern entgegen. Auf offener Bühne dankt sie ihrem Regisseur. Dieser umarmt sie und strahlt. Die Kamera hält auf ihn. Und genau das ist das Problem des Films.

„Winternachtstraum“ wirft einen liebevoll entlarvenden Blick auf Probenquerelen, Ensemblemachtkämpfe und Lampenfieber. Mehr noch lenkt Veiel jedoch den Blick auf sein eigenes Schicksalsspiel. „Die Judenverfolgung – wozu müssen wir über solche Sachen reden“, wehrt Inka eine Frage ab, und Veiel fragt nicht weiter, findet er es doch ohnehin viel spannender, immer wieder die abgebrochene und durch ihn jetzt angetretene Schauspielkarriere anzusprechen. Sehnsüchtig denkt man während der eingeschnittenen Interviewpassagen an die sachdienliche Abwesenheit des Interviewers Eberhard Fechner, in dessen meisterhaften Dokumentarfilmen wie „Comedian Harmonists“ oder „La Paloma“ die porträtierten Personen allein im Zentrum des Interesses stehen dürfen.

Der Regisseur schiebt sich immer wieder selbst ins Bild. Man hört ihn Fragen stellen, sieht ihn Teller in Inkas Küche tragen, muß ihn auf der Probe beobachten. „Inka, mach das doch einfach. Ich lasse dich doch nichts machen, was nicht gut ist“, sagt er, als sie sich weigert, ihre Stirn zu entblößen, weil danach die Haare nicht mehr richtig sitzen. Sein gefährliches Spiel, Inka Köhler-Rechnitz im Winter ihres Lebens den versäumten „Sommernachtstraum“ zu ermöglichen, sie zu einer Diva zu machen und dieses Image durch die gnadenlose Dokumentation ihrer aufkeimenden Allüren gleichzeitig zu zerstören, verwässert Veiel durch seine unergiebige Präsenz, ohne damit wenigstens den Zynismus seines Tuns zu entschärfen.

Die Kamera präsentiert Veiels Geschichte als eine, die das Leben schrieb. Die Kameramänner Hans Rombach und Lutz Reitemeier befleißigen sich einer pseudo-amateurhaften Kameraführung, um den arrangierten Begebenheiten den Anstrich von Authentizität zu verleihen. Die Zuschauer werden zu Voyeuren, die heimlich einen Blick auf das erhaschen können, was doch nur ihretwegen vonstatten geht. In falscher Bescheidenheit drückt sich die Kamera an der Wand entlang, pirscht sich auf wackligen Beinen seitlich und von hinten an Inka heran. Da steht Veiel wieder und wieder grinsend im Bild. Dann etwas Privatleben: Inka mit einer Kollegin am Schlachtensee oder Text lernend, beim Waldspaziergang.

Wo Veiels Ästhetik über die Werkstattfilme amerikanischer Hollywood-Großproduktionen hinausgehen möchte, ist sie einfach nur platt: Fällt beim Interview das Stichwort „Reise“, sieht man eine Lokomotive nächtens im eigenen Qualm verschwinden, spricht Inka von Nazis, wird die Aufnahme eines leeren Konferenztisches aus der Vogelperspektive eingeblendet.

Einzig Inka Köhler-Rechnitzs zornige und lebenshungrige Persönlichkeit bringt ein Spannungsmoment in den Film. Sie scheint zu wissen, daß Veiel sie benutzt, und benutzt ihn auch. All ihre unausgelebte Bühneneitelkeit kommt zum Vorschein, all der zuvor nie vorteilhaft ausgeleuchtete Charme. Aber Veiel vertraut seiner Diva letztlich nicht, und so kommt es nur selten zu so eindrücklichen, weil uninszenierten und schlicht beobachteten Szenen wie bei der Ankunft auf dem Görlitzer Bahnhof. Inka Köhler-Rechnitz ist soeben aus dem Zug gestiegen und blinzelt auf ihre spröde Art gerührt zwischen Pelz und Hut hervor. Ein Herr vom Görlitzer Theater begrüßt sie mit steifem Überschwang und streckt hölzern einen durchgekneteten, dünnen Blumenstrauß vor. Die Görlitzer Radiojournalistin drängt sich heran und fragt: „Welche Erinnerungen haben Sie an Görlitz?“ Da tritt sie zur Seite, die Jüdin des Jahrgangs 1909, und wendet sich ab. „Kaum eine“, antwortet sie. „Nach all dem, was in meinem Leben passiert ist...“ Schade, daß sich der Film für „all das“ nicht interessierte. Petra Kohse

„Winternachtstraum“ bis zum 9.12. um 18.30 Uhr in der Filmbühne am Steinplatz.