„Beunruhigung statt Friedhofsruhe“

Nach dem ersten Kältetoten dieses Jahres machen Obdachlose mobil: Heißer Tee für Bürgerkriegsflüchtlinge und Dampf für den Berliner Senat/ Theater statt Frust  ■ Von Uwe Rada

Berlin. Ingo Doberschütz macht eine Rauchpause. Das Zigarettendrehen fällt schwer in der Novemberkälte morgens um sechs. Doberschütz wärmt seine Hände an einem kleinen Wasserkessel, in dem der Tee für die Bürgerkriegsflüchtlinge aus Bosnien-Herzegowina langsam zu dampfen beginnt. „Seit dem 2. November sind wir hier am Waterloo-Ufer“, erzählt er, „und schenken Tee und Kaffee aus.“ Sie, das sind nicht etwa Kirchenaktivisten oder Flüchtlingsgruppen, es sind Obdachlose aus dem Ost- und Westteil der Stadt. „Im Grunde sind wir und die Flüchtlinge ja in der gleichen Situation“, sagt Ingo Doberschütz, „auf der einen Seite die Kälte und auf der anderen der Senat.“

Über die Resonanz der Aktion freut er sich. „Mit den Ausländern haben wir keine Probleme. Das sind alles unsere Gäste hier“, sagt er leise, aber bestimmt. „Wenn sie ihren Menschheitstraum nur in Deutschland verwirklichen können, weil es anderswo nicht geht, wollen wir sie nicht daran hindern.“

Ingo Doberschütz gehört der Zweiten Berliner Wohnungslosenoffensive an, einem lockeren Bündnis von Berliner Obdachlosen. Die erste „Offensive“ hatte im vergangenen Jahr, ebenfalls im November, sechs beheizte Baucontainer am Hegelplatz unweit der Humboldt-Universität besetzt. Mit Erfolg: Die meisten der Besetzer, die zur Zeit noch in einem Lichtenberger Leerstandshaus wohnen, sollen demnächst „normale“ Wohnungen beziehen.

Es wird auch Zeit, denn für die Wohnungslosen der Stadt steht der Winter nicht erst vor der Tür, er hat längst begonnen. Vor zwei Wochen forderte er sein erstes Kälteopfer: Harald Hermann, genannt „Menne“. Er hatte sich auf den Treppen der Kreuzberger Emmauskirche in seinen Schlafsack gelegt – und war erfroren. Die Öffentlichkeit reagierte auf den Tod „Mennes“ ebensowenig wie das Bezirksamt Kreuzberg auf das dahinterstehende Problem: „Es ist uns unverständlich, warum er nicht in den Notübernachtungsstellen für Obdachlose übernachtete“, ließ ein Mitarbeiter des Kreuzberger Sozialamtes über die Boulevardpresse verbreiten. Ein Satz, der Rainer Hickel von der Wohnungslosenoffensive auf die Palme bringen kann. „Die wissen ganz genau, was es heißt, in Läusepensionen den Rest an Menschenwürde lassen zu müssen.“

Viele Wohnungslose ziehen es deshalb vor, im Freien zu übernachten, das heißt „Platte zu machen“. Wie viele das sind, weiß keiner genau. Wer beim jeweiligen Bezirksamt nicht als wohnungslos registriert ist, taucht auch nicht in den Statistiken auf. Dies weiß auch Wolfgang Zügel, Pressereferent bei der Senatsverwaltung für Soziales. „Die offizielle Obdachlosenzahl liegt bei 10.000“, so Zügel, „die Dunkelziffer dürfte aber höher liegen. Wir rechnen mit 5.000 zusätzlichen Obdachlosen, die nicht gemeldet sind.“

Um die anstehenden Probleme wenigstens einigermaßen in den Griff zu bekommen, berief die Wohnungslosenoffensive vergangene Woche einen Runden Tisch ein. „Unsere Forderung ist einmal die dringend nötige Hilfe, wie Notübernachtungsmöglichkeiten oder die Öffnung eines Nachtcafés“, sagt Rainer Hickel, „und zum anderen eine Politik, die nicht länger auf dem Rücken der Obdachlosen ausgetragen wird.“

Seitdem der rot-grüne Senat im Februar 1990 auf das Belegungsrecht für freiwerdenden Sozialwohnraum durch die Wohnungsämter verzichtet hatte, liegt es allein im Ermessen der Vermieter, wer einen Mietvertrag bekommt. Einzig ein „Feuerwehrtopf“ von etwa 300 Wohnungen steht für Obdachlose zur Verfügung. Zwar hat der Senat nun beschlossen, diesen Topf auf 2.000 Wohnungen aufzustocken, ein Ergebnis liegt aber noch nicht vor. „Wir stehen noch in den Verhandlungen mit den Wohnungsbaugesellschaften“, erklärt Pressesprecher Zügel. Ob diese Gespräche vor dem ersten Frost abgeschlossen sein werden, kann er nicht sagen.

„Berlin, die Hauptstadt der Obdachlosen“ – diese fragwürdige Auszeichnung wurde der Spreemetropole bereits im Jahre 1990 verliehen. Caritas und Diakonisches Werk, diejenigen Wohlfahrtsverbände also, die die meisten Wärmestuben und Obdachloseneinrichtungen betreuen, sprechen heute von weit über 20.000 Obdachlosen, Tendenz steigend. Vor dem Hintergrund dieser Entwicklung ist es für die Wohnungslosenaktivisten um so wichtiger, Initiative zu zeigen: „Wir wollen, daß die Betroffenen aktiv werden, daß sie merken, etwas tun zu können und darüber auch wieder mehr Selbstwertgefühl bekommen“, umschreibt Rainer Hickel das Ziel seiner Arbeit.

Seit September letzten Jahres gibt es in Berlin ein einzigartiges Projekt: „Unterdruck – Kultur von der Straße“, ein Verein, in dem Obdachlose, Künstler und Sozialarbeiter gleichermaßen vertreten sind. In den Vereinsräumen am Rosenthaler Platz, an dem einst Franz Biberkopf seine Schnürsenkel verkaufte, steht in großen Lettern zu lesen: „Kulturelle Beunruhigung statt Friedhofsruhe“. „Der Senat“, sagt Ingo Doberschütz, einer der Mitbegründer von Unterdruck, „verwaltet lediglich das Elend, wir dagegen wollen den Betroffenen zeigen, du bist noch wer, du bist nicht der letzte Dreck.“

Ingo spielt Theater. Ein Gastspiel der schottischen Obdachlosengruppe „grassmarket project“ in der Volksbühne vor zwei Jahren war für ihn und einige andere der Anlaß, etwas ähnliches auch in Berlin auf die Beine zu bringen. Finanziell unterstützt vom Sozialamt Mitte, entstand so das Theaterstück „Untergang“, eine szenische Collage über den Obdachlosenalltag, die im Februar vergangenen Jahres in der Parochialkirche uraufgeführt wurde. „Das Stück war ein Erfolg“, freut sich Ingo Doberschütz, „und für uns zugleich der Anlaß, weiterzumachen.“ Im Februar dieses Jahres wurde ein „Weihnachtsstück“ von Obdachlosen in der Kreuzberger Naunynritze inszeniert, und zur Zeit läuft der Probebetrieb für ein weiteres Theaterstück, über dessen Inhalt sich Doberschütz freundlich in Schweigen hüllt. „Was genauso wichtig ist wie der Inhalt“, sagt er, „ist die Art und Weise, wie wir zusammenarbeiten. Beim ersten Stück gab es noch Neid und Konkurrenz. Das hat sich jetzt aber gelegt. Alle sind gleichberechtigt, im Theater und auch im Verein.“

Für Doberschütz ist Theaterspielen etwas, was den Akteuren wieder festen Boden unter den Füßen gibt. „Und außerdem ist es das beste Mittel, seinen Frust auszudrücken.“ Kultur und Politik sind für ihn kein Widerspruch. „In der Praxis gehört beides zusammen.“ Anläßlich der Premiere von Camus' „Die Pest“, bei der auch Obdachlose mitspielen, war im Foyer der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz eine Ausstellung von „Unterdruck“ zu sehen. „Und außerdem“, Rainer Hickel setzt sein bestes Grinsen auf, „haben wir nach wie vor ein Recht auf die Nutzung leerstehenden Wohnraums.“