Justine S.

Eine Fremde aus Kasachstan  ■ Von Gabriele Goettle

Unauffällig und grau, zwischen Blumenbeeten und Haselnußsträuchern, liegen mehrere dreigeschossige Gebäude auf einem umzäunten Gelände am Rande der Stadt. In diesem ehemals kombinatseigenen Ferienobjekt wurde, abseits vom Asylantenheim, ein Heim für Übersiedler eingerichtet, für sogenannte Rußlanddeutsche.

In der makellosen Küche von Haus I steht eine kräftige flachsblonde Frau am Herd, hält ihren brüllenden Säugling im Arm und schwenkt das kaltgewordene Milchfläschchen im Wasserbad. Sie trägt einen jener farbenfrohen und atmungsaktiven Jogginganzüge aus dünner Kunstfaser, wie man sie überall sieht an den Zurückgebliebenen aus Ost und West. Die junge Mutter kam vor vier Monaten mit Mann und Schwiegereltern aus Sibirien, der kleine Boris wurde kurz darauf geboren. Am Herd nebenan bereitet sich Justine S. aus Kasachstan heißes Wasser für den Tee. Sie ist eine der wenigen hier, die Deutsch sprechen. Vor sechs Monaten kam sie mit Tochter, Schwiegersohn und drei Enkelkindern in Deutschland an und bewohnt seitdem ein kleines Zimmer im ersten Stock.

Justine S. ist 1927 in der Sowjetunion geboren, in Urbach, einem Ort am Rande der ehemaligen Wolga-Republik. Sie ist hager, braungebrannt, hat rote Backen und braune Augen. Das graue Haar trägt sie straff nach hinten in einen Zopf geflochten, der zum Knoten gerollt und festgesteckt ist. Ihre schöne Jacke aus rostroter Wolle hat sie vor der Perestroika gestrickt, erklärend fügt sie hinzu: „Als es noch Wolle zu kaufen gab.“

Wir sind eingeladen zum Tee und folgen ihr nach oben. Im Treppenhaus steht ein schlaksiger Jugendlicher mit Ghettobluster und versteckt die Zigarette hinterm Rücken, oben kommen zwei kleine Mädchen den Flur entlang, denen die Zöpfe derart stramm geflochten sind, daß sich die Haut an der Schläfe abhebt. Sie grüßen auf russisch und trippeln vorbei.

Das Zimmer Nr. 8 ist klein und spärlich eingerichtet. Zwei Betten, zwei Schränke, ein Tisch mit drei Stühlen sowie zwei Nachtkästchen machen die Möblierung aus. Ihr Bett ist mit ordentlich eingerolltem Bettzeug und plüschigen Decken zu einer Art Couch umgestaltet, auf der eine Zierpuppe thront. Das wallende Spitzenkleid der Puppe ist selbstgehäkelt. An der Wand hängt ein Kruzifix, auf dem Nachtschränkchen stehen gerahmte Fotografien. Sie wohnt alleine.

Wir trinken aus schillernden Woolworth-Tassen russischen Tee, und Justine S. erzählt in leicht gebrochenem Deutsch mit deutlich süddeutscher Färbung ihre Geschichte:

Jetzt bin ich weg von dort, wo wir gewohnt haben. Das ist schade. Die Wolga-Deutschen sollen ja bald wieder zurück, das hört man, aber ich bin nun schon zu alt für alles. Ich habe Heimweh, jeden Tag. Aber meine Tochter will unsere Heimat vergessen, hat sie gesagt. Und sie tut es. Meine Voreltern sind ja vor gut und gerne 200 Jahren nach Rußland gesiedelt, die sind geholt worden von der Zarin Katharina der II., damit sie das Land bestellen und es zum Wachsen und Gedeihen bringen. Aber das ist alles, was mir mein Vater gesagt hat. Woher die waren, die Voreltern, das weiß keiner. Wie mein Vater gestorben ist, da war Krieg, und er hat uns nichts gesagt von allem. Fünfzehn war ich da.

G: Sie sprechen süddeutschen Dialekt, vielleicht Badisch oder mehr zur Pfalz hin...

J: Können Sie mich verstehen, ja?

G: Sehr gut.

J: Ach, das verwundert mich. Ich kann die Menschen hier in der Stadt gar nicht verstehen. Nicht ein bißchen. Mein Mann ist gestorben vor fünf Jahren. Seither spreche ich wenig. Meine Tochter versteht nur noch ein bissl, und die Enkel sprechen nur Russisch. Aber was sprechen die Menschen hier?

G: Deutsch. Es sind Sachsen, mit einem eigenen Dialekt...

J: Davon habe ich noch nicht gehört. Wir waren Bauern, in der Schule haben wir wenig gelernt. Aber meine Tochter, die hat in der Stadt gelernt, in einem Hotel. Ich habe in der Landwirtschaft gearbeitet, auf den Feldern, bei den Tieren und dann im Kindergarten 20 Jahre lang gekocht. Ich war zufrieden. Ganz zufrieden. Meine Schwester ist zu Hause geblieben mit ihren Kindern. Das hätte ich auch tun sollen, beizeiten.

Hier gibts für mich nichts zu verrichten. Jeder lebt in seiner Stube, reihum machen wir alles sauber im Haus. Aber viele von unseren sind froh, besonders die Kinder und jungen Leute wollen nie mehr weg von hier, und vom Fernsehapparat bekommt sie oft nicht mal der Vater weg.

Ich bin mit dem Flugzeug gekommen, die ganze weite Reise. Zuerst mit der Eisenbahn über Omsk nach Moskau. In Ufa haben wir noch meinen jüngsten Bruder besucht. Und dann Moskau... da habe ich gar nichts gesehen vor Geschäften. So eine große Stadt, habe ich gedacht, dieser Reichtum.

Zum Flugplatz wollte ich nicht. Meine Angst war zu groß. Zwei und eine halbe Stunde, haben sie gesagt, und du bist in Berlin. Im Flugplatz war mir schwindlig und wie das dann so raufgefahren ist, das Flugzeug, wie das geschüttelt hat und soviel Krach, da bin ich ganz ruhig geworden, habe gebetet, daß ich jetzt in den Himmel hinauf komme. Und dann habe ich aus dem Fenster geguckt und geweint, ade, meine Heimat, ich habe dich lieb und will dich immer im Herzen behalten.

Aber meine Tochter ist dagegen. Sie sagt immer: „Schau doch, alles ist schlecht geworden, es gibt nichts mehr zu kaufen in unserer Stadt!“ Bei uns im Dorf war das Leben nicht so schwer. Wir haben Tee gehabt, Mehl, Zucker, Eier, ein wenig Fleisch und auch Milch für die kleinen Kinder. Aber man hat uns die Papierchen gegeben, und sie haben gesagt, das muß jetzt für 14 Tage reichen, die Ration. Davor war immer alles da im Überfluß, vor der Perestroika. Alles.

Gemüse haben wir selber gebaut im Garten, Früchte auch, Kartoffeln und rote Rüben. Ich habe eingelegt für den Winter, Süßes und Saures. Aber dann hat es keinen Zucker gegeben. So habe ich Saft gemacht. Keine Marmelade, nur Saft. Und Gurken und Sauerkraut in Fässer. Salz war auch wenig da. Essig haben wir selbst gemacht aus Obst. Es hat sich immer alles gehalten bei mir. Beim Marktplatz hatten sie Hühner und Schweinefleisch und alles, aber sehr teuer.

Für die Kinder habe ich viele Kartoffeln gekocht und zu Brei gestampft, Suppe habe ich gemacht aus allem, was ich bekommen habe, im Winter war viel Kohl an der Reihe, aber im Sommer hat man mir viel verschiedenes Obst und Gemüse gebracht. Jetzt haben sie uns gesagt, es gibt nur wenig Kartoffeln und Obst, die Kommunisten halten die Lebensmittel zurück, irgendwo in den Lagerhallen, so sind die, da kann man es sehen. Aber warum? Wir haben doch vorher alles gehabt.

Vielleicht ist es heute wieder besser? Meine Wohnung ist schön. Wir haben Gasheizung, da ist es immer schön warm im Winter. Sie ist im Neubauhaus und auch billig, nur 15 Rubel, zwei Stuben, die Küche und die Badestube. Hier haben wir unten im Keller solche Duschen. Warum bin ich nicht geblieben? Rente habe ich auch bekommen, 150 Rubelchen, was für ein schönes Leben wäre das gewesen. Meine Tage habe ich zugebracht mit schwerer Arbeit, 53 Jahre lang, jede Arbeit immer ausgeführt.

G: Fahren Sie hier ab und zu in die Stadt?

J: Ja, schon... vor einer Woche...

G: Und, gefällt es Ihnen?

J:(verlegen) Na... ja... so viele Häuser, so viele kaputt und leer, große schöne Häuser. Hier haben sie gesagt, die Menschen haben die Häuser verlassen und sind weggezogen in den Westen, weil hier keine Arbeit ist... aber daß alles kaputt geht?

G: Das ist bei Ihnen in der Stadt nicht so?

J: Nein! Zu Hause ist alles sauber und weiß, schön, mit vielen Blumen und Gärten. In Deutschland, da wird alles neu und schneeweiß sein, habe ich mir gedacht. Und zuerst konnte ich das auch so sehen, in Berlin, wohin ich geflogen bin. Dort waren wir in einem ganz neuen schönen Haus, in Berlin. Am Flugplatz habe ich die Menschen bewundert, alle so groß, schön und reich. Dann haben sie uns hierher gebracht, und auch hier sind die Menschen so wie in Berlin, aber warum reparieren sie ihr Haus nicht?

G: Ich weiß es auch nicht.

J: So reiche Leute, und das Fenster kaputt, das Dach. Bei uns sind auch alte Häuser in Semipalatinsk, wo meine Tochter war. Am Fluß Irtysch sind viele, und bei den Schlachthäusern, aber die sind repariert am Dach, die Leute wohnen ja drin! So wie hier in der Stadt, das habe ich noch nicht gesehen, ich habe gefragt, ob Krieg war, aber sie hat gelacht, die Leiterin, hat gesagt, daß alles zu teuer ist und mans nicht kaufen kann. Da habe ich gleich angefangen mit dem Sparen.

Meine Eltern haben immer gespart. Sie haben das Geld unter den Dielen in einem Krug versteckt, aber nie kam ein Dieb. Meine Eltern konnten kein Russisch, alle beide nicht. Ich spreche sehr gut. In Urbach, wo meine Eltern aufgewachsen sind und die Groß- und Urgroßeltern und weiter zurück, da waren nur Deutsche, und die haben bei den russischen Bauern gegolten als schöne, reiche und fremde Ausländer. Meine Eltern haben uns erzählt, als wir Kinder waren, von der großen Dürre und Hungersnot an der Wolga im Jahre 1920. Die Brüder und Schwestern von unseren Eltern sind fast alle gestorben an Hunger und Typhus. Die Wolga-Deutschen sind verendet wie Fliegen zum Winter. Ich weiß noch, der Vater hat uns erzählt, daß die ganzen Familien sich, wie kein Körnlein mehr da war zum Essen, in ihrer Stube um den Tisch gesetzt hatten, und dann haben die Eltern von innen Fenster und Türen zugenagelt, damit keiner kommt und sieht, wie sie sterben. Später mußten die vom Dorfsowjet überall die Türen aufstemmen, und da haben sie Gerippe gefunden, neben den Stühlen liegen; und auf dem Tisch war die Bibel aufgeschlagen. Wir Kinder hatten furchtbar Angst gehabt vor den Gerippen.

Aber meine Eltern sollten auch dieses Schicksal haben, davon konnte damals noch keiner etwas wissen. Wir sind von Urbach weg-

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gekommen, wir Kinder mit den Eltern zusammen. Das war im Krieg. Man brachte uns von der Wolga nach Kasachstan. Das war traurig, alle haben geweint, nur der jüngste Bruder nicht, er hat sich gefreut über die Reise. Viel mitnehmen war nicht erlaubt, ein bißchen Bettzeug, Wäsche, Geschirr und Essen, sonst mußte alles zurückbleiben. Wir nahmens hin und hatten auf einmal gar nichts mehr. Das waren wir nicht gewöhnt.

Lange sind wir mit dem Zuge gefahren, dann mußten alle raus, und wir kamen in einen Wald. Da war kein Essen und kein Trinken. Dort hat man uns festgehalten. Nach einer Weile fingen die Menschen an zu sterben vor Hunger. Auch mein Vater. Zuerst mein Vater, dann meine Mutter. Wir Kinder waren jung und kräftig, wir überlebten. Ich war die Älteste, sie kamen und haben die Kinder, die noch nicht tot waren, in ein Kinderheim gebracht, auch meine Schwester und die zwei Brüder. Mich nahmen sie zum Arbeiten im Stall.

Die Deutschen waren nicht willkommen bei den Kasachen. Für uns waren das auch fremde Menschen, die vielen Kirgisen, und insgeheim waren sie Mohammedaner. Wir hatten in Rußland viel zu leiden, wir Deutschen. Man hat uns angespuckt und gesagt: „Pfui, weg, Faschisten seid ihr.“

G: Und waren die Wolga-Deutschen Faschisten?

J:(lacht und sagt stolz) Ja... viele waren Faschisten. Nicht alle, manche waren auch ein bißchen Kommunist, aber die meisten waren gute deutsche Leut. Auch nach dem Krieg gabs viele Faschisten bei uns Deutschen, mehr als heute. Viele sind ja umgekommen in der Roten Armee. Die sind gestorben im Kampf gegen die eigenen Brüder; unsere Söhne, Männer und Väter. Leider gibts von denen, die noch dort sind, nur noch wenige, die Faschisten sind, aber die Jugend interessiert sich heute Gottseidank wieder mehr für Politik.

Der Gorbatschow hat uns Wolga-Deutschen ja ein bißchen geholfen, er hat uns Deutsche sehr bewundert, aber er ist ja derjenige... das ganze Land ließ er zusammenbrechen, alles geht kaputt und ist zerstört für immer, seit der Perestroika. Davon haben wir Deutschen nichts, leider.

Aber gut, die Wand hat er weggemacht. Jetzt haben wir das Wagnis auf uns genommen, sind rübergekommen und wurden enttäuscht. Wenn man keine Arbeit hat und nichts, immer nur hier in der Stube sitzt, wie meine Tochter und alle hier, dann gehts uns ja schlechter als zu Hause, fast. Im Geschäft gibt es ja alles, Sachen, die ich noch nie gesehen habe, aber die Freude ist schnell vergangen. Meine Tochter spricht darüber keine Silbe. Zu Hause haben wir ja alles aufgegeben, zurückkehren geht nicht. Also müssen wir abwarten, ob uns Reichtum oder Armut beschieden ist. Meine Eltern haben zu uns Kindern immer gesagt: „Haschte Durscht, schlupf in'd Wurscht, haschte Hunger, schlupf in de Cucumer.“