Nebensachen aus Tokio
: November Days

■ Wo sind Japans 68er geblieben? Suche nach einer verlorenen Generation

Viele mögen sich noch an sie erinnern: die japanische Studentenbewegung der 60er Jahre. Zeitgleich zu den Universitätsaufständen in Berkeley und Berlin demonstrierte Nippons Jugend gegen Narita, das verhaßte Flughafenprojekt östlich von Tokio. Inzwischen ist der Flughafen längst gebaut. Und die damals Beteiligten sind ratlos, wenn man fragt: Was kam eigentlich nach Narita? Gibt es sie etwa gar nicht, die japanische 68er Generation?

Zugegeben, so leicht sind ihre Angehörigen in Tokio nicht aufzuspüren. Die meisten verschweigen lieber ihre Herkunft. Der eine, Koichi Kato, hat es zum Staatsminister und Regierungssprecher gebracht – ein Job, so heißt es unter seinen Gleichaltrigen, für den der Mann eigentlich viel zu gut sei. Dennoch sehen Soziologen in ihm den Vorläufer einer neuen Elite, die Japan genauso erobern werde wie Clinton die USA. Das seien Typen, meint Professor Hiroyuki Itami, deren Persönlichkeit sich während des Vietnam-Krieges im Bruch mit Amerika geschärft hätte. „Ich hoffe auf diese Leute“, meint der Soziologe.

Doch gibt es auch noch die anderen, die niemals dem Ehrgeiz der Gegenseite zusprachen und dabei doch nicht untergegangen sind. Ich denke an den Jazzspieler, der in einem Tokioter Keller seit zwei Jahrzehnten seine selbstverwaltete Kneipe führt, mit Biogemüse und Vollkorn- Sake. Dort verkauft er neuerdings auch seine erste CD neben einer von Yohji Yamamoto, dem Modemacher. Yamamoto, Kostümausstatter bei den Bayreuther Festspielen im kommenden Jahr, ist ein Freund des Jazzspielers, die gleiche Generation. Das gemeinsam Erlebte hält die beiden Individualisten zusammen.

Individualisten waren in Japan dennoch die wenigsten, auch 1968. So überlebten manche in der Gruppe. Der Seikatsu Club ist eine davon: Japans aktivste und erfolgreichste Verbraucherkooperative. Komisch: In den Büros des Seikatsu Club sitzen überall Männer, Studenten von damals. Dabei ist die Kooperative in ihrer Mitgliedschaft praktisch eine Frauenorganisation.

Im Rückblick sagen dann auch viele, daß die neuen Werte von 1968 auf Dauer nur bei den Frauen gewonnen hätten. Die haben sich vielerorts nicht durchsetzen können: Wer in Tokio nach der Möglichkeit einer natürlichen Geburt sucht, hat kaum mehr als ein halbes Dutzend Hebammen zur Auswahl. Dagegen kommt es auch heute noch vor, daß die Frauen – und zwar immer noch die gleichen – auf die Straße gehen. Diese Vierzigjährigen organisieren sich in ihrer Nachbarschaft, rund um eine unabhängige Stadträtin oder den Bioladen. Sie haben die Familie satt und entdecken die Öffentlichkeit ein zweites Mal. Dieser Tage ziehen sie in kleinen Gruppen vor den Sitz des Premierministers und fordern ein Ende der Korruption.

In unserer Nachbarschaft gibt es schon beides: den Bioladen und die unabhängige Stadträtin. Daneben eine alternative Kindertagesstätte, eine Ausländerinitiative und jedes Jahr im November das altmodische Rockfestival im Park. Da kommen sie dann wieder zusammen, Japans 68er, daran zu erkennen, daß fast mehr Kinder als Erwachsene zum Dylan-Sound im Herbstlaub toben. Auf dem Festival fehlten die Flugblätter, dafür gab es reichlich Curry-Reis, drei volle Tage lang. Nichts kreischend Aufgeregtes. Die Leute, die nicht zahlreich waren, strahlten Ruhe aus und die Gewißheit, daß es ihre Generation noch gibt. Georg Blume