Der Geist von Vichy läßt Frankreich nicht los

■ Verfahren gegen Nazi-Milizchef Touvier wird wieder aufgerollt/ Urteil wegen Mordes statt Verbrechens gegen die Menschlichkeit „widersprüchlich und ungültig“

Paris (taz) – Das Verfahren gegen den französischen Nazi-Kollaborateur Paul Touvier wird wiederaufgenommen. Mit dieser Entscheidung hat der Kassationshof– das oberste Gericht in Frankreich – ein Urteil niedergeschlagen, das einen Sturm der Empörung ausgelöst hatte: Am 13. April hatte ein Pariser Gericht in einem Urteil das Vichy-Regime rehabilitiert und die Einstellung des Touvier-Verfahrens beschlossen.

Dem Ex-Geheimdienstchef der Miliz von Lyon war vorgeworfen worden, in sechs Fällen Juden und Widerstandskämpfer ermordet zu haben. Nach Ansicht des Pariser Gerichts hatten die Beweise jedoch nur in einem Fall ausgereicht, den er selbst zugab: Als Rache nach der Ermordung des Vichy-Informationsministers durch die Resistance hatte Touvier 1944 die Hinrichtung von sieben Juden befohlen. Das Gericht war zu dem Schluß gekommen, diese Tat sei kein „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“, sondern Mord und somit verjährt. Zur Begründung hatte es eine empörende Erklärung abgegeben: Vichy „war kein totalitärer Staat und praktizierte selbst keine Politik der ideologischen Hegemonie“. Da „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ im Prozeß gegen Klaus Barbie, den Gestapo-Chef von Lyon, als Verbrechen in Ausführung einer solchen Politik definiert wurden, könnten also grundsätzlich nur deutsche Nazis, nicht aber ihre französischen Handlanger, „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ begangen haben.

Die 23 obersten Richter urteilten nun, als Geheimdienstchef der Miliz von Lyon sei Touvier Komplize der Gestapo gewesen. Er selbst hatte stets erklärt, die jüdischen Geiseln nach einem Gespräch mit dem örtlichen Gestapo- Chef ausgewählt zu haben. Nach dem Statut des Nürnberger Tribunals von 1945 können alle Personen wegen „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ verfolgt werden, die „für die europäischen Länder der Achse“ gehandelt haben. In diesem einen Fall sei das Urteil daher widersprüchlich und ungültig; bei den sechs anderen Verbrechen ist die Einstellung des Verfahrens endgültig. Der Kassationshof betonte, daß er nur befugt war, über Fehler in der Prozedur zu urteilen, nicht aber über den Fall selbst. Das Verfahren soll nun vor dem Appelationsgericht von Versailles wiederaufgenommen werden.

Die Entscheidung hat auch Folgen für zwei weitere hohe Beamte des Vichy-Regimes: René Bousquet hatte als Polizeichef 50.000 Juden verhaftet und an die Deutschen ausgeliefert. Auf seine Initiative hin wurden auch Kinder unter 16 Jahren deportiert. Maurice Papon hatte als Generalsekretär der Präfektur der Gironde die Deportation von 1.690 Juden aus Bordeaux veranlaßt. Er wurde bereits viermal wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit angeklagt, dreimal wurde das Verfahren eingestellt. Ex-Präsident Giscard d'Estaing hatte diesen Mann zu seinem Haushaltsminister ernannt. Seit Juni stehen Bousquet und Papon – beide 82 Jahre alt – erneut unter Anklage, leben jedoch weiter auf freiem Fuß. Auch Touvier, der nach dem Krieg zweimal in Abwesenheit zum Tode verurteilt und 1971 von Präsident Pompidou begnadigt wurde, mußte insgesamt nur zwei Jahre Untersuchungshaft über sich ergehen lassen.

Weiter kündigte Premierminister Bérégovoy an, daß Präsident Mitterrand zur Verantwortung des Vichy-Regimes für Verbrechen gegen die Juden Stellung nehmen wolle. Bislang hatte sich der Staatschef dazu äußerst zweideutig verhalten: So hatte er im Juli zum 50. Jahrestag der großen Juden-Razzia in Paris rabulistisch erklärt, Vichy sei nicht die Republik gewesen, daher sei die Republik auch nicht für die Taten dieses Regimes verantwortlich. Als er am 11. November, dem Gedenktag des Waffenstillstands im Ersten Weltkrieg, erneut einen Kranz an das Grab von Marschall Pétain schickte, distanzierten sich sogar seine Sozialisten. Bettina Kaps