Multi-ethnisch und faxbar

■ Ein Interview mit Kemal Kurspahic, dem Chefredakteur der bosnischen Tageszeitung „Oslobodjenje“ – der letzten Zeitung, die in Sarajevo noch erscheint

Kemal Kurspahic ist Chefredakteur der bosnischen Tageszeitung „Oslobodjenje“ mit Sitz in Sarajevo, der einzigen Tageszeitung, die in der belagerten Stadt noch erscheint. „Oslobodjenje“ – zu deutsch: Befreiung – wurde 1943 gegründet und galt unter Tito als linientreues Blatt. Als Kurspahic Ende der achtziger Jahre die Leitung der Zeitung übernahm, wurde sie schnell zu einem Sprachrohr der Opposition Ex-Jugoslawiens. 1989 wählten die jugoslawischen Journalisten „Oslobodjenje“ zur besten Zeitung des Landes. Die etwa hundertköpfige Redaktion der Zeitung ist weiterhin ethnisch gemischt. Dort arbeiten etwa gleich viel serbische, kroatische und muslimanische und auch einige jüdische JournalistInnen. Kemal Kurspahic ist es gelungen, Sarajevo für einige Tage zu verlassen, um eine Beinverletzung behandeln zu lassen. Nach Straßburg, wo das Interview geführt wurde, kam er auf Einladung des „Carrefour des litteratures europeennes“ (6. bis 11. November). In diesen Tagen wird Kurspahic in New York einen Preis für „mutigen Journalismus“ entgegennehmen. Gleich danach will er nach Sarajevo zurückkehren.

taz: Ihre Zeitung ist nach wie vor ethnisch gemischt. Ich nehme an, daß dadurch auch eine politische Position ausgedrückt wird.

Kemal Kurspahic: Oslobodjenje ist heute ein Symbol für das multi- kulturelle, multi-religöse und multi-ethnische Bosnien-Herzegowina, das wir uns wünschen. Vereint fühlen wir uns in unserer Redaktion durch unseren Beruf, unseren Wunsch nach Professionalismus und zum Teil auch durch Patriotismus. Als Journalisten versuchen wir zu schreiben, was wir sehen, und in der Sicht des Krieges sind wir uns einig, egal ob wir Serben, Muslimanen oder Kroaten sind. Das ist sicherlich einer der Gründe, warum Oslobodjenje von Beginn des Krieges an so scharf angegriffen wurde.

Von welcher Seite?

Von den Serben. Alle Angriffe auf die Stadt kommen von den Serben. Sehr nah bei unserer Zeitung, in hundertfünfzig Meter Entfernung, befindet sich eine Angriffsstellung der Serben, die auf alles schießen, was sich bewegt. Sie haben sofort angefangen, auf unser Gebäude zu schießen. Nach und nach ist es fast total zerstört worden. Es war einmal zehn Etagen hoch, ein modernes Gebäude und eines der Wahrzeichen moderner jugoslawischer Architektur. Es hat sogar Architekturpreise bekommen. Heute liegt es in Schutt und Asche. Uns ist nur der Keller geblieben, wo sich auch die Druckerei befindet.

Wie macht man unter diesen Bedingungen eine Tageszeitung?

Es war eine einmalige journalistische Erfahrung. Ein Beispiel: Seit dem Beginn der Blockade Sarajevos haben wir keine einzige Papierlieferung bekommen. Wir mußten also unsere Auflage und unsere Seitenzahl reduzieren. Früher hatten wir zwanzig Seiten, jetzt vier bis acht. Früher hatten wir eine Auflage von 50.000, jetzt 12.000, die wir in den Straßen von Sarajevo verkaufen. In einer halben Stunde ist die gesamte Auflage ausverkauft, denn die Nachfrage ist wesentlich höher.

Da wir das Umland Sarajevos nicht mehr beliefern können, haben wir ein paar Erfindungen gemacht. Eine davon ist, unsere Seiten zu vierteilen, so daß man sie zerschneiden und faxen kann.

Der Krieg hat also auch Folgen auf Ihr Layout und die Schriftgrößen?

Selbstverständlich. Außerdem haben wir die Zeitung außerhalb Sarajevos in Schaufenstern ausgehängt. Unsere Regionalbüros in Zenica und Tuzla haben es geschafft, mit einer Auswahl unserer Artikel Regionalausgaben zu drucken, meist im Wochenrhythmus. Eine andere Verbreitungsart ist das Verlesen unserer Kommentare in Radio und Fernsehen.

Wie genau verkaufen Sie Ihre Restauflage?

Wie gesagt: auf der Straße. Unsere normale Vertriebsstruktur ist zusammengebrochen. Die Laster sind zerstört, die Kioske und Automaten auch. Verkauft wird die Zeitung heute von den Journalisten selbst. Sie laden sie in ihre Privatautos und bringen sie in die verschiedenen Stadtviertel. Dort warten schon andere Redakteure, die sie dann an die Leute verkaufen. Bei dieser Gelegenheit geben sie außerdem ihre Artikel ab, denn in der verbleibenden Zeit recherchieren und schreiben sie. Die Artikel werden dann von den Kollegen in die Zeitung gebracht.

Wie organisieren Sie die eigentliche redaktionelle Arbeit?

Durch den Krieg wird es manchmal schwer, überhaupt nur an den Arbeitsplatz zu kommen. Wir haben darum Wochenschichten eingerichtet, pro Schicht zehn Redakteure. Schichtwechsel ist montags. Die eingeteilten Redakteure verbringen dann die gesamte Woche im Keller unserer Zeitung, wo sie auch schlafen und essen – sofern es etwas zu essen gibt, denn der Markt ist leergefegt. Nur durch ihre Anwesenheit in der Zeitung sind die Journalisten erreichbar und einsetzbar. Wir hatten ja zwei Monate lang kein Telefon, nicht einmal innerhalb der Stadt.

Auch die Ticker funktionierten nicht. Nachrichten mußten wir in dieser Zeit mit unserem Satellitenradio und -fernsehen abhören, was aber auch nicht einfach ist, denn wir haben zwar einen eigenen Generator, können ihn aber wegen Treibstoffknappheit nur für vier Stunden am Tag anschalten, wenn wir unsere Rotation betreiben. Und auch hier gibt es Probleme: Wassermangel. Unsere Rotation wird durch Wasser gekühlt. Aber aus der Leitung kommt keins. Wir müssen uns selber mit Wassereimern hinstellen und sie auf die Maschinen schütten.

Sind Ausgaben ausgefallen?

Keine einzige. Unser Gebäude wurde von allen serbischen Waffengattungen beschossen – Artilleriefeuer, Granaten, Maschinengewehr und sogar Panzer, aus hundert Meter Entfernung. Selbst in der Nacht zum 20. Juli, als das Gebäude völlig niederbrannte, haben wir weiter Zeitung gemacht. Die eine Hälfte der Redaktion löschte das Feuer, die andere saß im Keller und schrieb. Das Feuer war um sechs Uhr morgens gelöscht, um halb sieben erschien die Zeitung, wie jeden Morgen. Für die Einwohner von Sarajevo ist die Zeitung ein wichtiges Symbol, daß das Leben auch in Ruinen weitergeht. Es gab eine Zeit, wo es nur noch die Zeitung und Brot gab. Nachdem vor zwei Monaten die Brotfabrik zerstört wurde, gibt es nur noch die Zeitung.

Wie ist es einzuschätzen, daß Ihre Zeitung nach wie vor multi- ethnisch ist? Wie viele Chancen räumen Sie diesem Gedanken noch ein?

Hundert Prozent, denn es ist die einzige Überlebensmöglichkeit für Bosnien. Natürlich könnte man Bosnien auch dreiteilen, in einen serbischen, einen kroatischen und einen muslimanischen Teil. Klar geht das. Aber nur um den Preis einer „Säuberungspolitik“, wie die Serben sie betreiben. Die Bosnier müßten ihr Gebiet „säubern“, die Kroaten das ihrige usw. Das würde nochmal das Doppelte an Toten, an zivilen Opfern kosten. Wie sollte man so etwas hinnehmen? Wir haben jetzt schon so viele Kriegsverbrechen, die die Dimension eines Völkermords erreichen, Konzentrationslager, die nur mit dem Zweiten Weltkrieg zu vergleichen sind. Die serbische „Säuberung“ von ihnen beanspruchter Gebiete ist ein Kriegsverbrechen ersten Grades. Anderthalb Millionen Leute haben die Serben schon vertrieben, vergewaltigt und ermordet. In manchen Städten haben sie ethnische Mehrheiten vertrieben. Zivilisierte Gesellschaften können das nicht tolerieren.

Die einzige Möglichkeit, dieses Land und seine Bürger zu retten, besteht darin, dieses zerbrechliche und immer noch schöne Gleichgewicht zwischen den verschiedenen Gruppen und ihren Kulturen und Lebensarten zu erhalten. Interview: Thierry Chervel