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: Giftschrank 10

■ Als Museum bewahren? Die Bibliothek der Berliner Humboldt-Universität

Zum Beispiel Reiner Kunze. Nach seiner Ausreise 1977 wurde kein einziges seiner Bücher mehr angeschafft. Erst seit 1992 gibt es wieder ein neues. Eines. Václav Havel. Er mußte Präsident werden, um Eingang in die ehrwürdige Bibliothek zu finden. Zwei Bücher sind es seit der Wende: sein „Versuch, in der Wahrheit zu leben“ ist nicht dabei. Oder Johnson. Eine Handvoll Titel wurden 1922 aufgenommen, doch von den „Jahrestagen“, seinem Hauptwerk, liegen seit 20 Jahren nur zwei von vier Bänden vor. Die Hauptbibliothek der Humboldt-Universität ist nicht allein eine Ansammlung von Büchern, sie ist auch ein historisches Zeugnis. So etwas wie ein riesiges gesellschaftliches Artefakt.

Aus den Autorenkarten im Katalog sieht man rechts oben immer wieder den schier unmerklichen Vermerk „Schrank10“. Manchmal heißt es „Giftschrank10“. Spuren aus alten Zeiten. „Schrank10“ war das Möbelstück, wohin die gefährliche, eben giftige Literatur gesperrt wurde. Zum Beispiel Alexander Solschenizyn. Von einem guten Dutzend seiner Bücher ruhte die Hälfte in Schrank10. Meist ist dieser Bleistiftvermerk heute ausradiert, nur bei Robert Havemann hätte auch Radieren nichts genutzt. Seine „Rückantworten an die Hauptverwaltung 'Ewige Wahrheiten‘“ tragen unauslöschlich das Stigma des Verbotenen. „Giftschrank10“ steht da mit roter Tinte oben rechts. Rote Tinte – in gewisser Weise der Zensoren höchste Auszeichnung.

Überhaupt sollten die Vermerke auf den Giftschrank erhalten bleiben, sind sie doch ein Dokument. So wissen wir, wer einst in Schrank10 versammelt war. Zum Beispiel Arthur Koestler, Manès Sperber, Grass, Loest oder Willy Brandt; Orwells „Animal Farm“ natürlich und Dutschkes Dissertation über Lenin.

Eine andere Methode der Zensur sieht man an Lew Kopelew. Seine Bücher wurden ausnahmslos in russisch angeschafft. Erst seit der Wende ist das erste in deutsch zu lesen. Dann Wolf Biermann. 1967 wurde die „Drahtharfe“ ins Bibliotheksregal gestellt. 25 Jahre und eine politische Revolution später ist es, kaum zu glauben, immer noch das einzige. Vielleicht galt es, im Schrank10 Platz zu sparen? Aber Biermann hat Gesellschaft. Bis zum heutigen Tage fehlen ganz: Lutz Rathenow, Freya Klier, Adam Michnik – oder Eugen Drewermann zum Beispiel.

Es gibt ein Bibliotheksutensil. Das sogenannte „Wunschbuch für Leser“. Das Blättern im Buch verkürzt die Suche im Zettelkasten. An den Wünschen der Besucher sieht man, wer in der Bibliothek fehlt. Spitzenreiter ist Jürgen Fuchs, gefolgt von Michael Foucault. Margarete Mitscherlich. Erich Fromm oder Maxie Wander. Gegenprobe. Wen hat die Bibliothek zu bieten? Zum Beispiel: A-B – André Brie. Der ehemalige PDS-Vize und IM ist mit acht Titeln reichlich vertreten, unter anderem mit dem vielsagenden: „Die Wahrheit lügt in der Mitte“. C-D – Degenhardt. Lange vor der Wende und gleich mehrfach vertreten. E-F – Heinrich Fink. Kann seit den sechziger Jahren gelesen werden. Oder G-Ha – Hermlin, Stefan. 30, 40, 50 – seine Katalogkarten sind zahlreich. Ein Star der Bibliothek, aber Schrank10 blieb ihm verschlossen.

Abenteuerlich geht es im systematischen Katalog der Bibliothek zu. Da kämpfen immer noch die sozialistischen und kapitalistischen Weltsysteme miteinander, wird zwischen „bürgerlichen Kulturtheorien“ (Vertreter u.a. Umberto Eco) und der „marxistisch- leninistischen Kulturwissenschaft“ (Vertreter u.a. Kurt Hager) unterschieden oder stellt sich die Frage, wie man beispielsweise Literatur zum Arbeiteraufstand vom 17.Juni 1953 findet. Schlagwort „Aufstand“?: Gibt's nicht. – Schlagwort „Arbeiter“?: Fehlanzeige. Schließlich ein Treffer und dem Schlagwort: „Konterrevolutionärer Putsch 1953“. Natürlich. Unter dem Schlagwort „Konterrevolution“ findet sich dann auch Material zur ČSSR, Zwischen „Reafferenz“ und „Reagenz“ stößt man auf „Reagan, Ronald“ und in der Schublade „Parteiwesen“ ist alles, was zur Schlagwortkarte „SED“ gehört, weg, geleert, ausgeräumt.

Fragt man nach bestimmter, westlicher Literatur, kann es passieren, daß man zur Antwort bekommt: „Wenn Sie NSW-Literatur suchen, müssen Sie in die Staatsbibliothek gehen.“ NSW? „Nicht-sozialistisches Wirtschaftsgebiet“ hieß das mal, vor nicht allzulanger Zeit. Ich bin dafür, an dieser Bibliothek nichts zu verändern, weder am Inventar, noch am Personal; bloß außen neben dem Eingang an der Straße mit dem berühmten Namen Clara Zetkin eine zusätzliche Tafel anzubringen, mit der Inschrift: „Ehemalige Zentralbibliothek der Humboldt-Universität – Museum für fortgesetzte Vergangenheit“. Zum Beispiel. Thomas Moser

Stand der Recherche: 23. November 1992