■ Das israelische Parlament debattiert über Deutschland: Späte Wende
Die scharfe israelische Regierungserklärung zum Erstarken des Rechtsradikalismus in Deutschland kam mit einiger Verspätung. Nachdem fremdenfeindliche und rassistische Überfälle in Deutschland seit Wochen an der Tagesordnung sind, hat das Kabinett in Jerusalem erst am letzten Sonntag gefordert, daß die deutschen Behörden „mit der ganzen Macht des Gesetzes“ dagegen einschreiten sollen. Es klingt paradox: Auslöser dieser späten und plötzlichen israelischen Reaktion ist gerade nicht der unentschiedene und zögerliche Umgang der deutschen Politiker mit dem Rechtsradikalismus, sondern der Umstand, daß deutsche Behörden nun endlich von sich aus größere Bereitschaft zeigen, schärfer als bisher einzuschreiten. Eine weitere Rechtsentwicklung in der BRD hätte langfristig zu einer Bedrohung der israelisch deutschen Beziehungen werden können. Unter anderem betrachtet Jerusalem die Bundesrepublik als den wichtigsten Fürsprecher Israels innerhalb der EG. Die BRD war seit Jahrzehnten ein „Zufluchtsort bei schlechtem Wetter“, wie Schimon Peres schon vor ungefähr 30 Jahren betonte, ein zweiter starker Bundesgenosse, falls irgendetwas in der engen Allianz mit Washington schief gehen sollte. Als zentrale Macht in Europa ist die BRD heute für Israel von noch größerer Bedeutung. Es ist verständlich, daß Israel alles daransetzt, Entwicklungen zu vermeiden, die dieses enge Verhältnis in Zukunft stören könnten. Eine zunehmende, von Deutschland ausgehende Rechtsradikalisierung in Europa ist bestimmt nicht im Interesse des jüdischen Staates.
Andererseits hat ein kurzer, aber sehr einprägsamer deutscher Fernsehfilm, der am Freitag und Samstag hier gezeigt wurde, in der Öffentlichkeit erstmalig den Eindruck erweckt, daß sich ein scheinbar amtlich geförderter Neonazismus in der BRD breitmacht, in dessen Zentrum der Antisemitismus steht und der zu einem neuen Auschwitz zu führen droht. Die Empörung in Israel war so groß, daß die politischen Parteien nun endlich in aller Deutlichkeit reagieren mußten. Bildungsministerin Schulamit Aloni hat mit ihren Sanktionsforderungen gegen die BRD sichtlich auf diese Stimmung reagiert, ebenso wie die oppositionelle Likud-Fraktion. Erstaunlich war die Intensität der plötzlichen Wende gleichwohl, umsomehr als bisher eher der Eindruck vorherrschte, daß in Israel die Anhäufung rechtsextremer Phänomene in der BRD aus politischen Gründen zu wenig Beachtung findet.
Jedenfalls hat man sich nun endlich entschlossen, das Kind beim Namen zu nennen und die deutsche Regierung an ihre moralische und politische Pflicht zu erinnern, den um sich greifenden neonazistisch-rassistischen Terror im Rahmen des Rechtsstaates noch rechtzeitig zu bannen. Amos Wollin, Tel Aviv
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen