Zu mehr Wachstum vereint

Der EG-Binnenmarkt, der heute in einem Monat beginnt, soll seinen Bürgern mehr Wohlstand bringen/ Die taz-Serie zum Binnenmarkt, Teil 1  ■ Von Erwin Single

Genau in einem Monat ist es soweit. In der Nacht zum 1. Januar 1993 entsteht in Europa der zweitgrößte geschlossene Wirtschaftsraum der Welt (nach der geplanten nordamerikanischen Freihandelszone Nafta, s. unten). Wenn die Grenzbäume fallen, werden 380 Millionen KonsumentInnen der zwölf EG- und sieben Efta-Staaten vereint dem Wachstum frönen können – so jedenfalls haben es sich die Brüsseler EG-Kommissare vorgestellt. Mit „Europa 1992“, dem Binnenmarkt-Programm, will die Europäische Staatengemeinschaft vor allem die Wirtschaft ankurbeln.

Einen Raum ohne Binnengrenzen hatte bereits der im Februar 1988 vom dafür zuständigen EG- Sonderbeauftragten Paolo Cecchini vorgelegte Cecchini-Bericht beschworen: Der Binnenmarkt werde „den Wohlstand der Völker Europas, ja der ganzen Welt ständig mehren“. Der grenzenlose Verkehr von Waren und Dienstleistungen, von Personal und Kapital soll für einen zusätzlichen Wachstumsschub von vier bis sieben Prozent sorgen, die Verbraucherpreise um durchschnittlich sechs Prozent senken und knapp zwei Millionen neue Arbeitsplätze schaffen. Für die EG-Kommission sind diese Prognosen keine utopische Zukunftsvision, sondern realistische Vorgaben für das Euro- Schlaraffenland: Schließlich bringt es der Europäische Wirtschaftsraum (EWR) schon jetzt zusammen auf ein Viertel des Weltwachstums und die Hälfte des Welthandels – bei nur sechs Prozent der Weltbevölkerung.

Doch obwohl der Handelspakt mit einem Bruttosozialprodukt von rund 7.000 Milliarden US-Dollar eine wirtschaftliche Bank sein wird, bleibt Europa politisch ein Zwerg. Zwar halten die Staats- und Regierungschefs der EG mehr oder minder an ihrem Unionskurs fest, doch der ist spätestens seit dem Gerangel um die Maastrichter Verträge ins Wackeln geraten. Und was die politische Bedeutung des Binnenmarkts angeht, gehen die Meinungen weit auseinander.

Die Befürworter der Maastrichter Beschlüsse setzen darauf, daß der Wirtschaftsraum bald zum Zugpferd für die geplante Wirtschafts- und Währungsunion mit einheitlichem Euro-Geld werden könnte. Der Binnenhandel, so ihr Argument, verlange geradezu nach einer gemeinsamen Währung; zudem werde der neue Pakt bei den EG-Partnern zu einer ausgeglicheneren Wirtschaftskraft und stabileren wirtschaftlichen und finanziellen Verhältnissen führen und damit einen Stolperstein für eine baldige Währungsunion aus dem Weg räumen.

Gerade die strukturschwachen Regionen Spaniens, Portugals, Griechenlands oder Irlands hoffen, durch ein überproportionales Wachstum Anschluß an die übrigen Staaten zu finden. Doch ob sich durch den Binnenmarkt die ökonomische Entwicklung in den einzelnen Ländern angleichen wird, bezweifeln selbst eingefleischte Wirtschaftsliberale.

Die Euro-Skeptiker dagegen sehen ganz andere Schwierigkeiten: Sie glauben, daß die ohnehin divergierenden Volkswirtschaften weiter auseianderdriften und sich Europa zunehmend in Wachstumsregionen und Krisenzonen aufspalten wird.

In Brüssel beginnt man deshalb lieber im kleinen: Zunächst soll ein neuer Vorschlag über das umstrittene Subsidiaritätsprinzip auf den Tisch. Darin will die EG-Kommission klären, in welchen Bereichen die Gemeinschaft eingreifen wird, wenn ein Vorgehen auf regionaler oder staatlicher Ebene nicht mehr ausreicht. In ihrer Studie über die Perspektiven des EG-Binnenmarkts hatte eine Expertenkommission unter Leitung des früheren EG-Kommissars Peter Sutherland Ende Oktober bemängelt, daß eine regionale und nationale Regelungswut, wie sie sich die EG im Subsidiaritätsprinzip auf die Fahnen geschrieben hat, sogar die Grundsätze des Binnenmarkts in Zweifel ziehen könnte.

Zudem, so urteilten die von der EG-Kommission beauftragten unabhängigen Gutachter, gingen durch die nationalen Entscheidungsbefugnisse die Transparenz und die Rechtssicherheit verloren. Das Ergebnis: Niemand blickt mehr durch. Für Warenproduzenten und Dienstleitungsanbieter ein Grund, so die Befürchtung, von vorneherein auf grenzüberschreitende Geschäftsaktivitäten zu verzichten.

Fast acht Jahre lang haben in Brüssel Vertreter der Regierungen über die 279 Einzelbestimmungen verhandelt und verhandelt – von der Steuerangleichung bis hin zu einer Nivellierung der rund 100.000 nationalen Lebensmittelvorschriften. Dabei sind die EG- Kommissare fast selbst in der Reglementierungsflut untergegangen, so daß sie von einer „Harmonisierung“, wie sie ursprünglich einmal geplant war, nach und nach abrückten. Statt dessen wird jetzt das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung praktiziert. Doch auch das funktioniert nicht immer, wie kürzlich der EG-Binnenmarktkommissar Martin Bangemann an den acht EG-Normen für Motorräder vorexerzierte.

Die Richtlinien beschreiben etwa die genaue technische Beschaffenheit der Lenker, Beleuchtung oder Auspuffanlagen. Bislang müssen die Motorräder für fast jedes Exportland anders ausgerüstet werden. Ohne Vorgaben, so der oberste Binnenmarkt-Chef, komme man also nicht weiter, weil sich die Länder-Regierungen verweigerten. Und nur auf Vertrauen zu setzen, wäre ebenso blauäugig, wie sich mehrfach bei der Verlagerung von Kompetenzen von der Kommission zurück auf die Länderebene gezeigt hat. Kontrolle ist besser, das wußte schon Lenin, aber bitteschön wie?

Vor allem die Deutschen sind es, die ihren EG-Partnern nicht so recht über den Weg trauen. Insbesondere die Wirtschaft fürchtet sich vor Billigimporten aus dem benachbarten Ausland, die den Regelungen nicht entsprechen, ihnen dafür aber das Geschäft vermasseln.

Ob die Einfuhr von Mineralwasser in pfandfreien Plastikflaschen oder mit Schadstoffen belastete Elektrogeräte – die deutschen Unternehmer schmerzt, daß sie strengeren Vorschriften unterworfen sind als manch ein Nachbar. Und die anderen Staaten und deren Wirtschaftlobbies wittern in den deutschen Bestimmungen wiederum ein illegales Handelshemmnis. Dabei sollte gerade die Industrie der größte Nutznießer des schrankenlosen Euro-Marktes sein.

Ob die Arbeitnehmer von dem Europa ohne Schranken profitieren werden, muß sich erst beweisen: „Alle Maßnahmen“, so verlangte es schließlich der europäischen Unternehmerverband Unice, „die sich auf die Soziallasten der Unternehmen auswirken könnten, müssen vermieden werden.“ Daß der Binnenmarkt für einige lebenswichtige Bereiche ganz und gar nicht von Vorteil, sondern pures Gift ist, zeigt ein Ende 1990 an die EG-Kommissare abgelieferter Expertenbericht.

Eine task force zu Umwelt und Binnenmarkt hatte als Antwort auf den pathetischen Cecchini-Bericht unverblümt ein schmutziges Wachstum prognostiziert: Allein durch die Zunahme des Transports um 40 Prozent werde der Schadstoffausstoß bis ins Jahr 2010 um 30 bis 40 Prozent wachsen. Ökologie gilt den Binnenmarkt-Konstrukteuren offenbar nur als Störfaktor.