In Moskau tagt der Volksdeputiertenkongreß. Jelzins Gegner drohen wieder mit Sturz; er verkaufe das Land an den Westen. Der Präsident kontert, droht gar mit Diktatur. Die russische Demokratie ist unruhig geworden. Aus Moskau Klaus-Helge Donath

Jelzins Thron wackelt ein wenig mehr

„Radikale Reformen brauchen eine starke soziale Basis und eine geeignete politische Struktur, vielleicht eine Partei, vielleicht eine politische Bewegung.“ Nebulöse Worte sprach Boris Jelzin am Vorabend des Volksdeputiertenkongresses. Es sind aber auch neue Töne, denn bislang hatte sich Jelzin bewußt aus parteipolitischen Zusammenhängen herausgehalten.

Die radikaldemokratische Bewegung, die ihn während der Endphase des Kommunismus getragen hatte, zerfiel nach und nach und verstrickte sich in kleinkarierte Positionskämpfe. Und eine Hilfe war sie im letzten Jahr nicht mehr. Desto mehr geriet er unter den Einfluß zentristischer Kräfte. Sie wehren sich nicht gänzlich gegen Reformen, gehen jedoch von einem wesentlich schonenderen Modell aus, das vor allem die Privatisierung großer Staatsunternehmen auf die lange Bank schieben möchte.

Jelzins Sammlungsversuch, kurz bevor die Legislatoren in Moskau zusammentreten, hat taktischen Charakter. Die letzte Woche sah eine Reihe Kompromisse, die der Präsident der Opposition aus den Kreisen der Bürgerunion gemacht hatte. Er entließ seinen Staatssekretär Burbulis; Michail Polteranin, sein Vizepremier, nahm freiwillig seinen Hut, um Jelzin den Rücken freizuhalten. Wie schwer es dem Präsidenten fiel, ausgerechnet seinen Vertrauten Burbulis zu opfern, zeigt seine Entscheidung, ihn jetzt mit dem Aufbau einer eigenen Partei zu betrauen. Jelzin spekuliert auf Zuspruch für „seine Partei“ aus verschiedenen Kreisen der gemäßigten Opposition. Vielleicht schon heute beim Volksdeputiertenkongreß...

Jelzin hatte den Kongreß auf das Frühjahr verschieben wollen. Begründung: Die neue Verfassung läge erst im Rohentwurf vor. Der Oberste Sowjet, das arbeitende Parlament Rußlands, beschied sein Anliegen negativ. Statt dessen will er die Regierung zum Offenbarungseid zwingen. Die Mehrheit der Abgeordneten gehört dem konservativen und zentristischen Spektrum an. Jelzin ist auf die Unterstützung der Zentristen angewiesen. Zur Entscheidung stehen maßgebliche Fragen: Wird der Kongreß Jelzins präsidiale Sondervollmachten erneuern? Sie gestatteten ihm am Parlament vorbei mittels Dekretpolitik quasi gesetzgeberisch zu wirken. Außerdem möchten die Abgeordneten Jelzins Rechte beschneiden, die ihm bisher die Möglichkeit gaben, sein Kabinett in Gänze selbst zu ernennen. Einen entsprechenden Gesetzentwurf, der ihn zukünftig verpflichten will, das Parlament zu konsultieren, hat Jelzin soeben an den Gesetzgeber mit dem Auftrag zur Neuüberarbeitung zurückgegeben. Ruslan Chasbulatow, der windige Sprecher des Obersten Sowjets und des Volksdeputiertenkongresses machte allerdings kein Hehl daraus: er befürwortet die Verlängerung der Sondervollmachten bis Ende 1993, jedoch im Tausch für das Recht, die entscheidenden Minister vom Parlament absegnen zu lassen. Faktisch liefe das auf eine Preisgabe der Reformen hinaus und eine Doppelherrschaft zwischen Exekutive und Legislative. Jelzin und seine Mannschaft gaben unterdessen zu verstehen, daß sie weitere Veränderungen in der Regierung nicht vornehmen wollen. Der Kongreß muß ebenfalls den geschäftsführenden Premier, Jegor Gaidar, die hart umstrittene Gallionsfigur der Wirtschaftsreformen noch als Vizepremier bestätigen. Der nächste heikle Punkt ist die Annahme eines Antikrisenprogrammes. Die Opposition zwang Gaidar im Oktober, mit ihren Vertretern ein neues Programm zu erstellen, das an wesentlichen Punkten die Gaidarsche Schocktherapie mildern sollte. Was der geschäftsführende Premier letzten Donnerstag vorstellte, war im wesentlichen das alte Konzept mit einigen geringfügigeren Zugeständnissen an die Opposition.

Mit Sicherheit wird der Volksdeputiertenkongreß turbulent. Wieder einmal werden reaktionäre und orthodoxe Kräfte den Rücktritt Jelzins und seiner Regierung fordern. Fernsehkameras werden zeitgleich die rotbraunen Unterstützerdemos auf der Straße wirkungsvoll ins Bild setzen. Der Eindruck könnte entstehen, Jelzins Präsidentschaft stünde tatsächlich auf dem Spiel und Rußlands Streben nach Demokratie sei ein erneutes Mal gescheitert. So dramatisch wird es nicht kommen. Vielleicht ein versöhnliches Omen: gestern sprach das Verfassungsgericht sein Urteil im Prozeß gegen die KPdSU, die Jelzin nach dem Augustputsch für illegal erklärt hatte. Der bestätigte nur teilweise die Rechtmäßigkeit des Präsidentendekrets. Mit Blick auf die Leitungsstrukturen der Partei hätte Jelzin rechtens gehandelt, die lokalen Grundorganisationen zu verbieten sei nicht verfassungsmäßig gewesen.

Der Konflikt zwischen der Legislative und der Exekutive schwelt schon lange. Auf dem letzten Kongreß im Frühjahr zwang sie den Präsidenten zu weitreichenden Konzessionen. Im Sommer mußte er deren Wunschkandidaten aus dem einflußreichen „Industriellenverband“ in die Regierung mit aufnehmen. Die Industriellen verbanden gerade mit ihrem neuen Vizepremier Wladimir Schumeiko große Hoffnungen, auf die Regierungspolitik Einfluß zu nehmen. Zuvor bekleidete Schumeiko die Funktion eines der Stellvertreter des Sprechers des Parlamentes. Wie Schumeiko stammte auch der zweite stellvertretende Premier Georgij Kchitzcha als ehemaliger Produktionsmanager aus dem Technokratenmilieu. Auf Druck des Kongresses holte Jelzin auch Leute ins Verteidigungs und Sicherheitsministerium, die im alten System schon für ihre Hardliner-Position bekannt waren. Um sich gegen Rechtsaußen – die Nationalpatrioten –, offen chauvinistische und faschistoide Elemente, abzusichern, schien Jelzin den etwas aufdringlichen Flirt der alten Nomenklatura sogar willkommen zu heißen.

Die Industriellen hatten im Juni entscheidend an organisatorischer Kraft hinzugewonnen. Mit der Bildung des „Graschdanskij Sojus“ – der Bürgerunion – erschien eine Kraft in der Moskauer Politik, die auf Einfluß, Organisationsstrukturen und Humankapital verweisen kann. Ihr gehören unterschiedliche Organisationen an. Als graue Eminenz im Hintergrund der Industriellenlobby wirkt Arkadij Wolskij, Vorsitzender der „Union der Industriellen und Unternehmer“, die die Interessen der Produktionsmanager in den großen Staatsbetrieben vertritt. Vielfach wird Wolskij als der neue Premier gehandelt, der weist Ambitionen auf diesen Posten aber grundsätzlich von sich. Weiterhin wirkt er in der Bürgerunion die „Volkspartei Freies Rußland“ mit. Viele Mitglieder der Volkspartei stammen aus Reformzirkeln der KPdSU. Sie soll etwa 100.000 Mitglieder haben. Mit von der Partie ist noch die „Demokratische Partei Rußlands“. Alexander Trawkin gründete sie schon 1990, um aus ihr als einziger Gegeninstitution zu den Kommunisten ein demokratisches Sammelbecken zu machen. Grundsätzlich bekennt sie sich zu den Werten des westlichen Pluralismus. Eine gewisse Übersteigerung nationaler Besonderheit ist auch ihr nicht fremd. Nach Angaben der DRP verfügt sie über 50.000 Mitglieder. Im Parlament schloß sich die Bürgerunion nun mit sieben weiteren Fraktionen zum Block „Demokratisches Zentrum“ zusammen. Mit Abstand stellt sie die stärkste parlamentarische Kraft dar.

Das erklärt auch zum Teil, warum Jelzin von seinem ursprünglichen Vorhaben abrückte, die ungeliebte und überalterte Legislative einfach aufzulösen und Neuwahlen anzusetzen.

Noch hat sich die Bürgerunion nicht von ihren Maximalforderungen zurückgezogen. Jedenfalls öffentlich nicht. Es wird noch eine Menge Lärm geben, denn die „konstruktive Opposition“ muß schließlich ihr Gesicht wahren. Einige Zugeständnisse in wirtschaftspolitischen Fragen wird die Regierung nicht ausschlagen können. Sollte es dennoch wider Erwarten zu einem Eklat kommen, könnte Jelzin mit Hilfe seiner Vollmachten den Kongreß doch noch auflösen. Er schreckt davor zurück, weil so der Eindruck entstünde, er griffe nach der totalen Macht. Außerdem widerspräche dies der Verfassung. Aber die stammt eben aus der Zeit des Totalitarismus... Und der Präsident? Er wurde vom Volke frei gewählt, und damit kokettiert er. Wenn der Kongreß sich sperre, müsse „der Präsident den Willen des Volkes verteidigen“. Wenn alle Stricke reißen und die Deputierten den Aufstand proben, bliebe der alten Mannschaft immer noch eine Gnadenfrist von drei Monaten, bis das neue Kabinett präsentiert werden muß. In dieser Zeit kann noch einiges geschehen. Eins läßt sich einfach nicht mehr übersehen: Die Bevölkerung ist den Abgeordneten in ihrem Anpassungsprozeß an die Realität aktiv wie mental um einige Zeit voraus.