Das ernste Schmücken des Reichsten

„Genisa – Verborgenes Erbe deutscher Landjuden“ – eine Ausstellung in London  ■ Von Uta Ruge

Vor Jahren bestaunte ich im Jerusalemer Israel-Museum die aus allen Jahrhunderten und Weltgegenden dort zusammengetragenen Gegenstände jüdischer Religion und Volkskunst. Vor allem eine bescheiden-prächtige Hütte zum Laubhüttenfest hatte es mir angetan. – Bescheiden war sie, grob aus Brettern gezimmert, und prächtig: enthusiastisch bemalt mit einem knallblauen Himmel, bayerischen Almen und einem fröhlich springenden Hirsch. Das Derbe und Einfache der Holzbretter und ihrer Bemalung erinnerte dabei nicht nur an die Liebe zu einer Landschaft, sondern auch an eine Ländlichkeit, die sich womöglich einmal nicht in dumpfem Provinzialismus erschöpft hatte.

An die bayerische Laubhütte in Jerusalem fühlte ich mich neulich erinnert, als im Londoner Goethe- Institut von der Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth eine Ausstellung eröffnet wurde mit dem Titel „Genisa – Verborgenes Erbe deutscher Landjuden“. Eine Genisa, so klärt uns der zweisprachige Katalog auf, ist ein Raum, in dem etwas aufbewahrt wird, in diesem Falle Gegenstände des religiösen Gebrauchs, die im traditionellen Judentum nicht weggeworfen, sondern eben in Genisot (Plural) aufgehoben wurden. Solche Gegenstände, gefunden in insgesamt neun süddeutschen Landsynagogen, sind jetzt vier Wochen lang zunächst in London und dann in Norwich zu sehen. (Die Fundorte sind Westheim, Veitshöckheim, Urspringen, Memmelsdorf, Untermerzbach, Röllbach, Freudental, Odenbach und Ichingen.) Die Geschichte dieser Funde hat mit der in Westdeutschland vielerorts von einer nachgeborenen Generation betriebenen Erforschung des Nationalsozialismus als konkreter Heimatgeschichte zu tun.

Im Rahmen einer Regionalgeschichtsforschung über Nationalsozialismus und Widerstand in Bayern stieß der Historiker Falk Wiesemann, der heute in Düsseldorf Zeitgeschichte lehrt, in den 70er Jahren auf überraschend viele ländliche Synagogen. Die meisten waren als Lagerräume, Ställe und Feuerwehrhäuser zweckentfremdet worden, teils schon lange vor der Nazizeit. – So unfreiwillig nämlich, wie die deutschen Juden als Stadtvertriebene im 16. Jahrhundert aufs Land gezogen waren, so bereitwillig und relativ schnell hatten sie das Land auch wieder verlassen, sobald die Emanzipation im 19. Jahrhundert ihnen die Möglichkeit dazu gab. Das endgültige Ende der jüdischen Landgemeinden in Deutschland jedoch war erst mit dem Nationalsozialismus gekommen. Seither waren nur noch stummer Stein, entweihte Synagogen und verlassene Friedhöfe geblieben – so jedenfalls sah es selbst für Experten bis vor kurzem noch aus. Die Genisa-Funde auf den Dachböden und Hohlräumen zwischen Dachbalken alter Dorfsynagogen, die im Zuge der Wiederentdeckung des jüdischen Erbes renoviert und oft als Gedenkstätten oder Museen wiederhergestellt wurden, hat das Landjudentum jetzt neu in das Blickfeld der Forschung gerückt.

Falk Wiesemann konnte sich allerdings, da er Zeithistoriker ist, die Funde jedoch vor allem aus dem 17. und 18. Jahrhundert stammen, nur als Privatmann weiter mit ihnen beschäftigen. Seinem Engagement ist diese Ausstellung vor allem zu verdanken, und im Katalog betont er, wie bescheiden die Materialbasis für die Forschung dennoch weiterhin ist. Es geht nicht selten nur um zerkrümelnde Reste von ohnehin vom langen Gebrauch zerfledderten Büchern und verschlissenen Sakralgegenständen.

Dieses Zerschlissene und Fragmentarische wird in London durch die zu diesem Zweck gegründete internationale Stiftung „Hiddeen Legacy Foundation“ liebevoll konserviert und, vom Ausstellungsmacher Fritz Armbruster aus Wasserburg künstlerisch präsentiert, allgemein zugänglich gemacht. Da finden sich Blätter aus Bibeln, religiösen Traktaten, populären Fabelbüchern, Taschen- und Wandkalendern, teils gedruckt, teils handgeschrieben, nahezu alles in hebräischer Schrift oder auf Jiddisch abgefaßt. Aber zu sehen ist auch eine Seite aus einer deutschsprachigen Fibel aus dem 19. Jahrhundert – „der klee. das gras. das heu. das stroh. das korn. der warzen. der haber. die gerste“ – oder auch einige Geleitbriefe, die an Beruf und Stand vieler Landjuden dieser Zeit als Hausierer erinnern – „Gegenwärtiger Händler zu Fuß hat das schuldige Geleitsgeld auf einen Tag gebührend entrichtet, und ist hierauf zu paßiren. Roßach den 4. Aprill 1799“

Daneben sind Kopfbedeckungen ausgestellt: ein „Schabbesdeckel“, eine Art steife große Baskenmütze, und einige Frauenhäubchen; dazu ein paar lederne Teffelinkapseln, das sind Behälter für Bibelverse, die wie kleine Zylinderhütchen aussehen und zum Gebet von frommen Juden auch heute noch mit alten Lederriemen auf die Stirn gebunden werden.

Was aber sollte mich von alldem wohl an die Laubhütte in Jerusalem erinnert haben?

Ich denke, das waren vor allem die Textilien: Torawimpel, Teffelinbeutelchen und ein Toramantel. Sie alle waren, wie die Laubhütte, bescheiden und prächtig zugleich: ein seidener Kleiderstoffrest, grob zusammengenäht, ein Stück feine Baumwolle, ungekonnt mit hebräischen Buchstaben bestickt... Es ist die materielle Armut des jüdischen Landlebens, das ernste Schmücken des Reichsten, das man hat, des Wortes, das diesen Ausstellungsstücken Anmut und Würde verleiht – die Würde auch einer des Schreibens und Lesens kundigen Bevölkerung inmitten einer christlichen Mehrheit von Analphabeten.

„Genisa – Verborgenes Erbe deutscher Landjuden“. Goethe-Institut, London, bis 19. Dezember; danach Norwich, Sainsbury Centre for Visual Arts, 19.Januar bis 18.April; ab Mai 1993 in Würzburg, Freudental, München und schließlich (November 1993) in Berlin. Katalog im Bertelsmann Verlag, 30DM.