■ Robert Jungk: 50 Jahre nach der ersten Atomspaltung
: „Feuer mit Feuer bekämpfen“

taz: Am 2.Dezember 1942 fand unter dem Football-Platz der Universität von Chicago die erste kontrollierte Atomspaltung statt. Für Sie ein monströses Datum?

Robert Jungk: Für mich das vielleicht folgenreichste Datum der Weltgeschichte. An diesem Tag ist von Menschen etwas begonnen worden, was für Tausende von Jahren nicht mehr enden kann. Man hat bei der Diskussion dieses Ereignisses häufig nur an die Atombombe gedacht, und nicht daran, daß durch die Spaltung des Atoms, mit der Hervorbringung enormer Mengen Radioaktivität, negative Kräfte in die Welt gekommen sind, die wir nicht mehr loswerden. Das ist etwas menschheitsgeschichtlich völlig Neues.

Das Experiment in Chicago war Teil des „Manhattan Project“, es zielte auf den Bau der Atombombe. Sie schreiben seit 40 Jahren über die Atombombe und die Atomkraft. Wie haben die beteiligten Wissenschaftler ihre Arbeit an der Bombe legitimiert?

Ich habe mit vielen von ihnen gesprochen. Die meisten haben ihr Mitwirken im nachhinein sehr bedauert. Fast alle, auch die, die sich später radikal gegen ihre eigene Arbeit wandten, sagten mir aber, sie hätten geglaubt, dies tun zu müssen, um zu verhindern, daß die Nazis eine ähnliche Bombe entwickelten und einsetzten. Ihre Bombe sollte nur als Gegendrohung aufrechterhalten werden, damit Hitler den Einsatz einer Atombombe nicht riskierte. Mit anderen Worten: Die Bombe, an der diese Wissenschaftler arbeiteten, war von ihnen primär als Bombe zur Abschreckung gedacht – nicht zum Einsatz, wie später in Japan geschehen. Aber das zeigt nur, wie Menschen etwas entgleitet. Sie haben ihre Arbeit nur machen können, indem sie sich mit dem Militär zusammentaten. Das Militär aber verfolgte andere Ziele.

Das klingt sehr reflektiert. Wenn man die Berichte aus dem „Manhattan Project“ liest, hat die Forschung dieser dagegen eher den Charakter eines Trainingslagers für Nobelpreisträger.

Schauen Sie, die amerikanische Wissenschaft war damals nicht sehr hoch geachtet und hat nicht über viel Geld verfügt. Mit einem Mal standen nun Millionen von Dollar, ja Milliarden zum Weiterforschen zur Verfügung. Das war ein enormer, ein gefährlicher Reiz.

Die Verbindung von Wissenschaft, Technologie und Industrie für den Krieg, wie im „Manhattan-Project“, ist seitdem häufig wiedergekehrt. Was hat sich für die Wissenschaft durch diese Verbindung verändert?

Man kann heute von einer Spaltung innerhalb der Wissenschaft sprechen. Es gibt zum einen die Wissenschaftler, die die weltpolitischen Spannnungen, die ihnen die Mittel zum Arbeiten verschaffen, hinnehmen. Es gibt aber auch eine wachsende Minderheit, die glaubt, mit einer solchen Orientierung zahle die Wissenschaft einen zu hohen moralischen Preis.

Instrumentalisiert diese Mehrheit der Wissenschaftler den Staat?

Wissenschaftler und Staat benutzen sich gegenseitig. Allerdings sind Forscher, die glauben, den Staat zu benutzen und unabhängig zu bleiben, eigentlich kurzsichtig. Der Staat hat das letzte Wort.

Ein aktuelles Beispiel?

Ich habe ein Buch geschrieben über die europäischen Teilchenforscher bei CERN in Genf. In dem Forschungszentrum sind viele hundert Millionen Mark notwendig, um diese riesigen Maschinen bauen zu können. Und zunächst wurde immer betont, wir betrieben nur friedliche Forschung. Aber heimlich flüsterten die Wissenschaftler ihren Geldgebern immer wieder: „Ihr wißt nicht, was dabei herauskommen kann, inwieweit Euch das auch für Eure Kriegsforschung nützt.“ Und als schließlich das Sternenkriegsprogramm SDI zur Diskussion stand, wurde davon gesprochen, die großen Maschinen auch für das SDI-Programm einzusetzen.

Aber ist mit Ende des Kalten Krieges dieser Art von Kooperation nicht die Grundlage entzogen?

Ich hatte ein sehr interessantes Gespräch in Livermore, dem zweiten US-amerikanischen Bombenlaboratorium. Dort sagten mir Wissenschaftler, wann immer sie einen neuen Waffentypus fertig hätten, müßten sie den Militärs und Strategen einreden, das sei noch nicht das Ultimative. Hätten diese Wissenschaftler gesagt, sie hätten die endgültige Waffe, wären sie arbeitslos geworden. Und tatsächlich argumentieren auch viele von mir befragte Militärs, sie seien von den Rüstungsforschern verführt worden, neue Mittel auszugeben. Es müsse weitergeforscht werden, sonst entwickele der Gegner eine noch mächtigere Bombe.

Die Wissenschaftler nutzen also ihren Wissensvorsprung aus. Ist Kontrolle überhaupt möglich?

Nur andere Wissenschaftler können sie kontrollieren. Es muß Gegenexperten geben, die auf dem gleichen Wissensstand sind. Für mich ist solch eine kritische Wissenschaft eine der wichtigsten Entwicklungen nach 1945. Das haben wir vorher nicht gehabt. Früher standen Bürger, Politiker und Militärs den Wissenschaftlern allein gegenüber.

Trotzdem bleiben wir auf Experten oder bestenfalls Gegenexperten angewiesen. Sind wir einer neuen Priesterkaste verfallen?

Ich glaube, wir dürfen uns nicht gefangennehmen lassen. Außer den Wissenschaftlern müssen sich viele Bürger engagieren und über genügend Wissen verfügen, damit sie mitreden können. Deshalb ist es außerordentlich wichtig, daß wir eine auch wissenschaftlich informierte Öffentlichkeit haben. Das ist der einzige Weg in die Freiheit.

Die Wissenschaft ist heute häufig so weit spezialisiert, daß eine öffentliche Auseinandersetzung bei gefährlichen Entwicklungen kaum mehr möglich scheint. Machen sich Forscher, die in solchen Grenzbereichen arbeiten, automatisch schuldig?

Nein. Sie müssen unterscheiden zwischen dem weiteren Bemühen um Erkenntnis, zwischen reiner Forschung und angewandter Forschung. Ich glaube, die reine Forschung, die sich um die Suche nach der Wahrheit bemüht, die muß immer weiter, die darf immer weiter gehen. Beim Schritt in die wissenschaftlich begründete Technik wird man jedoch mitschuldig. Den Forscherdrang, zu wissen, den kann und sollte man nicht stoppen.

Diese Entschuldigung würde für weite Teile des „Manhattan Project“ auch gelten.

Nein, das war angewandte Forschung – das Ziel war die Bombe. Es ist aber interessant, daß einer der führenden US-Wissenschaftskritiker, Daniel Elsberg, jetzt ein zweites „Manhattan Project“ fordert. Es solle helfen, dessen negative Konsequenzen – Waffen und Radioaktivität – wieder unschädlich zu machen. Das ist das erste Mal, daß ein Wissenschaftler vorschlägt, ein Großprojekt zu starten, um die Fortschritte unserer Wissenschaft rückgängig zu machen!

Ist das nicht nur eine neue Form besagter Gefangenschaft?

Natürlich auch. Es ist der Versuch, Feuer mit Feuer zu bekämpfen. Interview: H.-J. Tenhagen