Das Recht zu trauern-betr.: taz vom 1.12.92 von Manfred Dworschak

DEBATTE

Das Recht zu trauern

Trauernden mißlingt eine Geste: Unsicherheit? Heuchelei? Liebende flüstern tausendfach genutzte Worte: Kitsch? Entrüstete finden nur eine Formel für ihre Empörung: Kälte, Oberflächlichkeit? Das kommt vor in den Gesten und Worten dieser Tage gegen die Ausländerfeindlichkeit. Manfred Dworschak (taz v. 1. 12.) spürt alles „Unechte“ auf, denunziert es schon sprachlich: „heie Zähren“, das sind die unechten Tränen, „Menschenketten häkeln“, das sind (weibliche) Kinkerlitzchen. Nichts leichter, als in diesen Tagen Phrasen aufzuspüren. Und nichts weniger angebracht. Denn die Transparente, Briefe, Kerzen, das Glockenläuten, die Menschenketten und Demonstrationen sollen ja nicht Kunst sein, sondern öffentliches Eintreten von Bürgern für ihre Verantwortung für andere. Warum sieht Dworschak nicht dies Neue, das ja leider durchaus nicht selbstverständlich ist, sondern versucht es uns madig zu machen? Weil er meint: 1. diese Gesten sind wenig bis nichts wert (und viele verlogen), weil sie das eigentliche Ziel verfehlen: den Schutz der ausländischen Mitbürger. 2. Diese Gesten selbst schaffen erst, indem sie die ausländischen Bürger als besondere Gruppe herausstellen, den Gegenstand der Aggression. 3. Nur wenige haben ein Recht zu trauern.

Drei Irrtümer.

Erstens: Aus dem Versagen der Polizei in vielen Fällen, aus häufig zögernder Haltung von Verfolgungsbehörden wird heute gern pauschal das Urteil gefällt, „der Staat habe den Schutz der Ausländer nicht gewährleistet“. Im Ernst wird doch bei aller Kritik im einzelnen niemand behaupten wollen, Rechtsradikale gingen nicht das „geringste Risiko“ ein. Und eine Chimäre ist die Vorstellung, Polizei und „Staat“ könnten die Sicherheit und den Schutz der Ausländer in Deutschland „gewährleisten“. Einen wirksamen Schutz kann auf Dauer nur ein gesellschaftliches Klima bieten, in dem die überwältigende Mehrheit der Bürger denkt, sagt und zeigt, daß Verachtung und Gewalt gegen Menschen geächtet ist (und damit in der Konsequenz auch verfolgt). In diesem Sinne hat die Schülerkette in Huckelriede, hat das Transparent vor dem Theater, das auf die Morde vor Mölln hinweist, mehr zum Schutz der Ausländer getan als Polizei und Staatsgewalt je könnten. All diese kleinen Aktionen arbeiten an der Wiederherstellung der gesellschaftlichen Übereinkunft, daß die Würde aller Menschen zu achten und zu schützen ist. Feuilleton-Kritik sollte man an ihnen sich besser sparen.

Zweitens: Das „Gefasle von Multikultur und Integration“, so Dworschak, mache das pittoresk Fremdenmäßige erst, „auf das die Faschos so fliegen“. Es gibt aber - ungleich nach Herkunft und Dauer des Aufenthalts - Unterschiede in Sprache und Kultur, in Sitten, Gewohnheiten und im Verhalten. Die Aufgabe besteht doch darin, diese Unterschiede wahrzunehmen und zu respektieren, ohne sie zu verschärfen und zu unüberwindlichen, feindlichen Gegensätzen zu machen (z. B. in positiven oder negativen Pauschalurteilen). Wer das leugnet, erklärt die Probleme der Einwanderung und Integration zu einem Medientrick und einer Erfindung von dunklen Mächten. Er wird sich noch wundern.

Drittens: Die meisten von uns haben nach Dworschak kein Recht zu trauern, weil wir die Morde nicht verhindert haben. Was für ein weltfremder Unsinn. Auch wer etwas versäumt hat, kann trauern. Selbst Täter können trauern, wenn sie mit den Folgen konfrontiert werden. Das nennt man Reue. Das Urteil von Dworschak kann nur verstehen, wer der verbreiteten, fürchterlichen Logik folgt, die zur Zeit jeden politisch Andersdenkenden zum Förderer, ja Verursacher rechtsradikaler Gewalt macht. Die CDU: Wer nichts gegen den Mibrauch des Asylrechts tut, arbeitet den Rechtsradikalen in die Hände. Die „Linke“: Wer über diesen Mibrauch auch nur redet, arbeitet den Rechtsradikalen in die Hände. M. Dworschak: Wer nicht allein auf die „erbarmungsloseste“ Gesetzanwendung setzt wie er, erleichtert den „Faschos“ das Geschäft. Solche sinnlose Ausgrenzung polarisiert die gesellschaftlichen Kräfte weiter in einem Augenblick, wo es darum ginge, die gesellschaftliche Mitte wieder zu einem Konsens zu bringen, der offensichtlich in Gefahr ist.

Die Oberstufenschüler der Delmestraße, hat mir mein Sohn erzählt, wollen den Angehörigen in Mölln Briefe schreiben, jeder persönlich. Wahrscheinlich werden manche Briefe naiv und formelhaft sein, sicher auch sentimental. Hoffentlich schreiben viele: Briefe von deutschen Jugendlichen an ausländische Bürger, mit denen zusammenzuleben sie damit versprechen. Wenn das Schule macht, werden auch Polizei und Gerichte bald das Ihre tun und Erfolg damit haben.

Hermann Kuhn (Fraktion Die Grünen)